Überlastete Justiz – Wenig Chancen auf Gerechtigkeit?

Lange Verfahrensdauern vor Gericht, ständig verschobene Verhandlungstermine. Die deutsche Justiz ist überlastet. Während sich die Wartezeit strafmildernd für Angeklagte auswirken kann, leiden die Betroffenen immer mehr. REPORT MAINZ hat zwei von ihnen getroffen.  

Eberhard Mönks hat vor fast sieben Jahren seine Frau verloren, mutmaßlich durch Fehler eines Notarztes. Doch obwohl die Staatsanwaltschaft schon vor Jahren Anklage erhoben hat, ist ein Gerichtstermin noch immer nicht in Sicht. Auch Aylin Ermis wartet schon seit Jahren auf ein rechtskräftiges Urteil. Ihre Schwester ertrank im Alter von sieben Jahren bei einem Schulausflug. Die Lehrkräfte sollen ihre Aufsichtspflicht verletzt haben. Doch schon das erste Verfahren zog sich über mehrere Jahre hin. Und auch die Termine für das Berufungsverfahren werden immer wieder verschoben oder aufgehoben. Dabei ist der Tod des Mädchens schon fast zehn Jahre her. Keine Einzelfälle. Die Justiz stößt in vielen Bereichen an ihre Grenzen. Experten warnen vor einer „Erosion des Rechtsstaates”.

Text des Beitrags:

Christiane Mönks, bald sieben Jahre ist ihr Tod jetzt her. Verstorben mutmaßlich infolge von Fehlern eines Notarztes. Ihr Ehemann Eberhard Mönks erinnert sich an jedes Detail von jenem Tag - als deutlich wird, dass sie nicht überleben wird.

Eberhard Mönks, Ehemann:
„Als ich dann bei der Tochter vorbeifuhr, machte mir der Enkel auf. Stellt die Frage, Opa muss Christiane jetzt sterben. Da konnte ich ihn in den Arm nehmen und sagen: Das wollen wir nicht hoffen. Das war ganz, ganz furchtbar.“

Christiane Mönks hatte einen Oberschenkelhalsbruch erlitten - der Notarzt soll ihr ein starkes Schmerzmittel verabreicht haben - kombiniert mit einem Narkosemittel. Laut Gutachten der Rechtsmedizin war das Narkosemittel gar nicht notwendig. Aus dem Gutachten geht auch hervor, dass der Arzt Christiane Mönks nicht adäquat überwacht hat. Sie verlor das Bewusstsein, starb später an den Folgen des Sauerstoffmangels im Krankenhaus.

Eberhard Mönks, Ehemann:
„Ich bin eigentlich geschockt, dass ein Arzt, und da bin ich nicht allein, dass ein Arzt so handelt. Kein Puls, keine Atmung, kein Blutdruck. Nichts wurde überprüft.“

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen Totschlags.

Viele Jahre warten auf Gerichtstermin

Der Arzt bestreitet mögliche Fehler. Doch bald sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau gibt es noch immer keinen Termin für eine Verhandlung vor Gericht. Das Gericht begründet das Mönks gegenüber mit begrenzten Personalressourcen und vorrangig zu bearbeitenden Haftsachen. REPORT MAINZ gegenüber schreiben sie außerdem: 
„Der Verfahrensstoff ist in diesem konkreten Verfahren außergewöhnlich umfangreich und komplex [...].” 

Eberhard Mönks kann nicht verstehen, dass es für solche Verfahren nicht genügend Richter gibt. Zumal im selben Verfahren der Arzt wegen gefährlicher Körperverletzung mehrerer weiterer Patienten anklagt ist, so das Gericht.

Eberhard Mönks, Ehemann:
„Das ist skandalös, dass praktisch hier in einem Rechtsstaat nicht recht gesprochen wird. Hier ist ein Mensch ums Leben gekommen, dass das nicht verhandelt wird. Dafür habe ich keinerlei Verständnis.“

Verfahrensdauer nimmt bundesweit zu

Lange Wartezeiten auf Termine vor Gericht, überlange Verfahrensdauern. Recherchen von REPORT MAINZ zeigen: Was Eberhard Mönks erlebt, ist kein Einzelfall.  Die Verfahrensdauer nimmt bundesweit seit Jahren tendenziell zu.

Dauerte ein Strafverfahren am Landgericht in erster Instanz 2013 ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft durchschnittlich 17,2 Monate, waren es 2023 schon 21,5 Monate - ein Anstieg um 25 Prozent. Auch besonders lange Verfahren haben zugenommen: Fast jeder Zehnte muss mehr als vier Jahre auf die Erledigung seines Verfahrens warten.

REPORT MAINZ liegen aus diversen Rechtsbereichen Termine für Verhandlungen vor, die teils zwei bis drei Jahre in die Zukunft vergeben werden.

Andere werden wiederholt aufgehoben - wie im Fall von Aylin Ermis aus Berlin. Vor fast neun Jahren ist ihre kleine Schwester bei einem Schulausflug am Badesee ertrunken. Heute besucht sie diesen Ort zum aller ersten Mal.

Es war die erste Schulfahrt für die Siebenjährige. Dass Elif noch nicht schwimmen konnte, hätten die Lehrkräfte gewusst, das geht aus dem ersten Urteil hervor. Und, dass das Konzept, die 70 Grundschüler zu beaufsichtigen, erkennbar nicht genügte.

Aylin Ermis, Schwester:
„Die Erinnerung an meine Schwester ist schmerzhaft. Zu sehen, wie unnötig das alles ist, wie vermeidbar das alles gewesen wäre, das macht es einfach viel schlimmer.“

Lange Verfahrensdauer strafmildernd für Beschuldigte

Fast neun Jahre sind vergangen - doch ein rechtskräftiges Urteil gibt es noch immer nicht. Im ersten Prozess wurden die Lehrkräfte 2021 zu fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verurteilt. Da sich das Verfahren über fünf Jahre hinzog, entschied das Gericht, die lange Verfahrensdauer strafmildernd zu berücksichtigen. Die Lehrkräfte erhielten eine Geldstrafe.

Aylin Ermis, Schwester:
„Das ist ein absoluter Schlag in die Magengrube, dass es anscheinend den Angeklagten in die Karten spielt. Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass das auch längeres Leiden für uns bedeutet.  Niemand sieht unseren Verlust. Niemand sieht dem täglichen Schmerz meiner Eltern.“

Beide Seiten legten Berufung ein. Doch auch das zweite Verfahren kommt seit Jahren kaum voran. Mehrfach wurden Verhandlungstermine verschoben, weil dringlichere Verhandlungen anstanden. Die Termine für dieses Jahr auch wieder aufgehoben.  Stattdessen wird eine Einstellung des Verfahrens wiederholt diskutiert.

Hohe Überlastung an Gerichten

Gegenüber REPORT MAINZ begründet das Justizministerium Brandenburg die wiederholte Verschiebung der Termine unter anderem mit „personeller Fluktuation.”

Stellungnahme Justizministerium Brandenburg:
„Die zuständige Kammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) [...] war und ist - wie auch die anderen großen Strafkammern des Landgerichts - stark mit Haftsachen belastet.”

Die Kammer habe eine Überlastung angezeigt. Schon seit Jahren warnt der Richterbund vor Personalmangel in der Justiz und immer längerer werdenden Verfahren - so auch hier, auf einer Podiumsdiskussion des Deutschen Richterbundes in Kiel.  Andrea Titz, Vorsitzende des Verbandes eröffnet die Veranstaltung.

Andrea Titz, Vorsitzende Deutscher Richterbund am Rednerpult:
„Ist der Rechtsstaat noch zu retten? Ist die Frage, mit der sie sich heute beschäftigen werden und das klingt zugegebenermaßen sehr bedrohlich”

2000 Richter und Staatsanwälte fehlten derzeit bundesweit, heißt es - bei zu wenigen Bewerbern. Dabei kämen ständig neue Gesetze hinzu, die Verfahren würden komplizierter. Die Gerichte kämen kaum noch hinterher.

Andrea Titz
Andrea Titz | Bild: SWR

Andrea Titz, Vorsitzende Deutscher Richterbund:
„Man kann nicht öfters als maximal fünfmal in der Woche verhandeln. Und das ist eigentlich auch nicht möglich, weil man ja dann doch auch mal Zeit haben muss, ein Urteil zu beraten und es dann auch abzufassen. Und das bedeutet, dass man dann bei bestimmten Verfahren eben überhaupt nicht zeitlich in der Lage ist, da einen Termin anzuberaumen, weil man mit den Haftsachen, die ja vorrangig behandelt werden müssen, so gebunden ist.“

Experten warnen vor Erosion des Rechtsstaats

Weil einige Untersuchungshaft-Verfahren länger dauern als gesetzlich erlaubt, werden immer wieder Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen. Eine REPORT MAINZ Umfrage unter den Justizministerien ergab: 62 Inhaftierte mussten im vergangenen Jahr vorerst freigelassen werden. In den vergangenen fünf Jahren waren es 259 Personen. Darunter diverse Male Beschuldigte für Mord- oder Sexualdelikte.

Ihm bereitet der Zustand der Justiz schon lange Sorgen, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. Er fordert nicht nur mehr Stellen in der Justiz, sondern auch mehr Geld.

Hans-Jürgen Papier
Hans-Jürgen Papier | Bild: SWR

Hans-Jürgen Papier, Präsident Bundesverfassungsgericht, a.D.:
„Der Justizbereich müsste in der staatlichen Finanzplanung und Finanzausstattung eine sehr viel größere oder bessere Würdigung erfahren. Denn eines ist eben ganz klar: Wenn der Staat seine Kernaufgaben der Justizgewähr in angemessener Zeit nicht erfüllen kann, dann droht eine Erosion des Rechtsstaats.“

Auch die Bundesländer bestätigen die angespannte Lage. Sie sind für die Justiz zuständig. Aber die Gesetze macht der Bund. Deshalb wollen sie vom ihm mehr finanzielle Unterstützung. Auch SPD und Union sind sich einig, dass die Justiz gefördert werden muss. Beide versprechen, sich für einen Bund- Länder-Pakt für die Justiz einzusetzen.

Eberhard Mönks will, dass sich schnell etwas ändert, sodass die Umstände des Todes seiner Frau endlich vor Gericht verhandelt werden können. 

Stand: 05.03.2025 13:57 Uhr