Mo., 09.04.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Griechenland: Scharia mitten in Europa
Was Recht ist und was nicht, entschied bei den Muslimen in der Kleinstadt Komotini bisher der Mufti. Meco Cemali ist seit fast 40 Jahren hier der Rechtsgelehrte. Jetzt muss er hinnehmen, dass seine Gläubigen selbst wählen dürfen, ob sie Streitigkeiten in der Familie nach griechischem Recht oder nach den Vorschriften der Scharia geregelt haben möchten. Im Gegenzug wünscht er sich aber auch, dass in Europa die Scharia toleriert wird: "Mir ist wichtig, dass Europa weiß, dass in Griechenland für Muslime die Religionsfreiheit gilt. Wir hier praktizieren auch nicht die komplette Scharia, nur den Teil des Familienrechts. Wir haben hier noch nie einem Dieb einen Kopf oder eine Hand abgehackt."
"Die muslimische Frau hat kein Mitspracherecht"
"Nur" Familienrecht, das klingt für manche vielleicht harmlos. Doch Sabiha Souleiman weiß, für viele Frauen kann es Unterdrückung und Armut bedeuten. Sabiha musste schon mit sieben Jahren arbeiten, wurde mit 13 verheiratet – mit Einverständnis des Muftis. Doch sie begann zu kämpfen: Für sie als Muslima sollen die gleichen Rechte gelten, wie für andere griechische Frauen. Die Gesetzesänderung, wonach Muslime jetzt zwischen griechischem Recht und der Scharia wählen können, bringe den Roma-Frauen gar nichts. Denn in ihrer Gemeinde dominiert die Tradition und so hat sie nach wie vor als Frau keine Wahl: "Wir Roma hier folgen der Scharia blind. Weil wir Muslime sind. Wären wir woanders, in anderen Städten hätten wir solche Probleme mit der Scharia vielleicht nicht. Keine Frau weiß, weder unsere Großmütter noch Mütter, noch wir selber, was genau die Scharia ist. Wir folgen ihr nur. Als Religion. Blind", sagt Sabiha Souleiman vom Verein für Frauen "Elpida".
Doch Sabiha will das nicht länger tatenlos hinnehmen. Sie hat einen Verein gegründet, kümmert sich um Frauen, die wegen der traditionellen Rollenverteilung ganz unten gelandet sind. Sie alle mussten schon als Kinder arbeiten, wurden jung verheiratet, dann von ihren Männern verstoßen. Die Roma-Gemeinde verachtet verlassene Frauen. Aber ein Neuanfang ist auch nicht möglich, denn einer Scheidung stimmt der Mufti oft nicht zu. "Egal was der Mann tut, die muslimische Frau hat kein Mitspracherecht. Sie darf nicht wütend werden, nicht reden, nichts verlangen – sie darf nichts. Sie ist wie eine Pflanze und so soll sie auch bleiben. Wenn ich will, darf ich sie umtrampeln. Wenn ich will, lasse ich sie aber auch mal aufblühen und gieße sie. Es gilt nur, was der Mann sagt, das ist seit Generationen so und wird sonst auch so bleiben", sagt Sabiha Souleiman.
Sabiha hält die Scharia für frauenfeindlich. Sie hat es am eigenen Leib erfahren: Ihr Mann verprügelte sie, ihre Schwiegereltern demütigten sie, weil sie keine Kinder kriegen konnte. Erst nach sieben Jahren Martyrium war die Scheidung durch.
"Die Sharia ist menschlicher und gerechter"
Doch in der muslimischen Gemeinde denken nicht alle so negativ über die Scharia. Auch nicht die Frauen. Sumeya Iman sieht das islamische Gesetz als Geschenk. Die Wahlmöglichkeit jetzt lehnt sie ab: "Wenn die Scharia nicht mehr in Griechenland praktiziert werden darf, müssen wir als Muslime trotzdem danach leben", sagt Sumeya Iman. Die Scharia sorge für Gerechtigkeit. Dass Frauen im Erbfall weniger bekämen, findet sie angemessen. Schließlich bräuchten die Männer mehr, gerade wenn sie eine neue Familie gründen wollten. Die Lehrerin unterrichtet an der "heiligen Schule" von Komotini. Auch ihren eigenen drei Kindern bringt sie die Scharia bei. "Damit sie nicht anders denken, unterrichte ich sie seit Jahren. Die Große ist jetzt 13. Wir haben früh damit begonnen. Sollten sie zweifeln, werde ich ihnen versuchen das menschlich Beste zu zeigen. Die Sharia ist menschlicher und gerechter. Das ist der Islam und unsere Religion."
Drei Muftis regeln in West-Thrakien für die muslimische Gemeinde Hochzeiten, Scheidungen, Erbstreitigkeiten. Der Kontakt zu den Griechen ist überschaubar. Die Muslime leben hier in ihrer eigenen Welt, erzählen viele. Dass die griechische Regierung jetzt die Möglichkeit geschaffen hat, sich auf die griechischen Gesetze zu berufen, wurde nicht von allen freudig zur Kenntnis genommen.
Gesetzesänderung zartes Pflänzchen der Demokratie
Doch für das muslimische Paar Sebat Arifoglou und Aydin Omeroglou ist die Gesetzesänderung ein zartes Pflänzchen der Demokratie, das sie pflegen möchten. Die beiden sind seit 30 Jahren verheiratet und Sebat ist gegen die Scharia. Sie erinnert sich an das Drama, als ihre Mutter sich scheiden lassen wollte. Sebat selbst durfte nicht wie ihr Bruder studieren. Und bis vor Kurzem hatte sie Sorge, dass sie im Todesfall ihres Mannes das Haus nicht behalten dürfte. Das Haus, was beide gemeinsam gebaut haben. "Ich ziehe gar nicht erst in Betracht, dass der Mann oder die Frau in einer Ehe mehr Rechte haben könnte. Die Frauen müssen die gleichen Rechte haben, wie Männer. Meiner Meinung nach ist das neue Gesetz, das Muslimen die Möglichkeit gibt, zwischen Scharia und griechischem Recht zu wählen, für viele Menschen eine Erleichterung. Gerade eben in Bezug auf Erbschaft, Heirat und Scheidung", sagt Sebat Arifoglou.
Für viele Frauen wäre es wohl einfacher gewesen, wenn Griechenland die Scharia ganz verboten hätte.
Autorin: Ellen Trapp, ARD-Studio Rom
Stand: 02.08.2019 05:01 Uhr
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