So., 12.04.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Japan: Einsamkeit in der Mega-City
Einmal im Jahr ist alles anders, wie verzaubert: Tokio im Rausch der kurzen Kirschblüte. Der beste Rahmen für ein Rendezvous. Zeit, das Brautkleid auszusuchen. Wer will jetzt schon alleine sein? Glückliche Momente zu zweit… Das hat sich Keisuke Jinushi schon lange gewünscht: Ein Picknick unter Kirschblütenzweigen. Das sind ihre Sachen. Gelöst lacht er in die Kamera. Gleich wird sie sich zu ihm legen, ihm zärtlich einen Keks in den Mund schieben. Er hat alles akribisch geplant; jeden einzelnen Schnappschuss. Nur das Wichtigste fehlt: die Freundin.
Keisuke Jinushi:
Es ist nur die Illusion von Zweisamkeit. Jinushi treibt einigen Aufwand dafür: Fake statt Flirt. Es kommt auf die passende Requisite an. In Wirklichkeit hatte der 30-Jährige noch nie eine feste Freundin.
Allein unter fast 40 Millionen. So viele Bewohner hat der Großraum Tokio. Aber wo ist der oder die eine? Glücklich an der Seite eines Partners – dieser Lebensentwurf gerät zum Auslaufmodell. Heiraten? Für die wenigen Jungen in einer alternden Gesellschaft ein fast unwirklicher Gedanke. Dutzende Brautkleider, aber kein Paar, das sie anschauen will. Ein Brautmodengeschäft mit Fotostudio in Tokio. Kyoko Sasaki ist jetzt 34 – Zeit für ein Hochzeitsfoto, findet sie. Die Aufmachung bekommt sie hier. Dem richtigen Mann ist sie noch nicht begegnet.
Kyoko Sasaki:
Der Traum in Weiß zum Ausprobieren, ein Testlauf für umgerechnet etwa 250 Euro. Kyoko hat die klassische Variante gewählt, mit Perlenkette und Diadem. Solo-Wedding heißt die Geschäftsidee: Hochzeit ohne Partner.
Hirokazu Sakai, Geschäftsführer:
Zur Kirschblüte werden die Japaner gesellig: Feiern im Park, heute vor allem im Kollegenkreis. Familien sieht man immer seltener. Der Anteil der Single-Haushalte ist in Tokio auf 50 Prozent gestiegen. Vor allem die jungen Männer gehen immer häufiger allein durchs Leben. Tete-a-Tete im Shopping-Center. Es sieht aus wie ein Date. Megumi Furukawa verkauft das Gefühl von Nähe. Der Mann neben ihr ist 26 und zahlt für ihre Gesellschaft. Körperkontakt findet nicht statt.
Megumi Furukawa:
Ihren Service nennt sie Support, Unterstützung. Er ist Angestellter bei einer großen Firma, hat wenig Freizeit. Die Miet-Freundin lässt ihn nie warten. Über seine Scherze lacht sie immer.
Ryusuke Kawada:
Es ist so einfach: Gefühlte Nähe für 30 Euro die Stunde plus Fahrtkosten. So muss Alleinsein nicht Einsamkeit bedeuten. Die Dienstleisterin würde ihm nie nachlaufen. Die Geburtenrate in Japan fällt und fällt. Die Politik ist ratlos. Es liegt nicht nur an der Wirtschaftskrise. Die japanische Jugend verweigert sich den familiären Normen der Älteren. Keisuke Jinushi ist eigentlich ganz froh, dass seine Facebook-Freundin gar nicht wirklich existiert.
Keisuke Jinushi:
Kyoko Sasaki im zweiten Durchgang ihrer Solo-Hochzeit, diesmal in Pfirsich-Farben. Es werden viele schöne Bilder, hofft sie. Das Fotoalbum will sie später den Kolleginnen zeigen. Hauptsache einmal das Brautkleid tragen, so lange sie noch jung und schön ist. Träume werden zusammengekehrt. Allein leben in Tokio: Es muss nicht Einsamkeit bedeuten. Freundschaft und Liebe sind anstrengend. Manchmal genügt der schöne Schein.
Autor: Ulrich Mendgen, ARD-Tokio
Stand: 14.04.2015 17:44 Uhr
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