So., 12.01.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Nigeria: Gezeichnet durch Stammesnarben
Adetutu Alabi war ein Baby als sie mit Klingen tief in ihre Wangen schnitten. Die Tradition wollte das so. Schmucknarben mitten im Gesicht. Adetutu Alabi hat es trotz des vermeintlichen Makels zum Topmodel in Nigeria geschafft. Ihre Tochter aber soll davon verschont bleiben. Deshalb nutzt das Model ihre Bekanntheit, um gegen die Markierung an Kindern zu kämpfen.
Narben als Markenzeichen
"Niemand will doch aussehen wie eine Katze. Sie sagten zu mir: Oh, hast Du mit einem Löwen gekämpft? All solche Sachen!" Makellose Haut, Pflicht für internationale Fotomodelle, bei Adetutu Alabi Fehlanzeige. Die Ziernarben, auf Englisch "tribal marks", heute ihr ganz besonderes Markenzeichen. "Sie sind sehr wichtig, deshalb will ich nicht, dass sie überschminkt werden. Sie können darum herum arbeiten. Die Narben sollen zu sehen sein, denn das ist mein Markenkern: Ich bin das Model mit den Stammesnarben."
Ihre Markierung ist kein Tattoo, die 31jährige Nigerianerin war erst ein paar Wochen alt, da ließen ihre Eltern ihr die Markierungen ins Gesicht schneiden. Lange hat Adetutu sich für ihre Narben geschämt, versteckte sie deshalb. Doch heute kennt sie keine Scheu mehr. Sie macht ihren vermeintlichen Makel zu ihrem Markenzeichen.
Ein Model mit Ziernarben – für Fotograf Santos Akihlele gibt Adetutu vielen unbeachteten Nigerianern eine Stimme. "Wir sehen viele Leute mit diesen Narben, aber wir wissen nichts darüber. Uns war nicht klar, was sie durchmachen und Adetutu hat das alles Öffentlich gemacht." In Nigeria leben mehr als 250 Volksgruppen. Einige praktizieren die Tradition der Markierung. Eindeutige Zeichen aus welcher Stammesfamilie jemand kommt. Manchen färben die Narben mit Asche dunkel. Sie können groß oder klein sein. Und so entstehen sie. Fotos aus Benin. Tief gehen die Schnitte, Blut fließt. Keine Betäubung.
Früher wurde sie gehänselt
Adetutu Alabi lebt jetzt in Lagos. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter Peace. Peace soll so etwas nie erleben müssen – und auch nicht mit den Folgen leben. Die Markierung von Kindern lehnt Adetutu ab. "Und meine Tochter sagt selbst auch nein. Die Leute starren dich wegen der Narben an und schneiden Grimassen, wenn sie Dich sehen." Ihre eigene Kindheit war deshalb sehr schwierig, immer wurde sie gehänselt. Sie traute sich deshalb auch nicht, an die Universität zu gehen. Wenn sie einen Freund hatte, wollte er am helllichten Tag nicht mit ihr gesehen werden. "Okay, es ist Nacht, dann können wir ausgehen, dann sieht man Deine Narben nicht und niemand beschimpft dich. Ich hab mitgemacht, ich war verliebt."
Adetutu ist auch im Netz aktiv, eine moderne Frau in Nigeria. Früher haben sie die Gegensätze fast zerrissen, jetzt schöpft sie Kraft daraus. Die Ziernarben, niemand sollte sich dafür schämen, dafür kämpft sie. "Andere Leute mit Ziernarben haben mir geschrieben, dass ich ihr Selbstbewusstsein gestärkt hätte, weil ich die Markierung so stolz zeige. Ich hab ihnen gesagt, es waren Deine Eltern nicht Du selbst, Du musst Dich jetzt nicht für den Rest Deines Lebens selbst bedauern."
Sind Narben Teil der Kultur?
Tradition und Moderne, beides liegt hier ganz nah beieinander. Es passt nicht immer gut zusammen. Noch immer werden Kinder markiert. Zum Beispiel hier, in Ibadan, zwei Stunden von Lagos entfernt. Wir treffen hier einen Mann, der sich wünscht, die Markierungen würden überleben. Er hat Angst, seine Kultur zu verlieren. "Diese Ziernarben lassen uns die Unterschiede zwischen uns sehen", sagt Akanda Lukman Adedoga. "Wer gehört zu welcher Volksgruppe. Woher wissen wir dann, wohin wir gehören." Er selbst hat sie früher gemacht, zeigt mir die Instrumente. Ob er es immer noch tut, darüber redet er nicht. Stammesnarben bei Kindern sind mittlerweile gesetzlich verboten. Aber das Gesetz wird nicht überall durchgesetzt. "Dann nahmen wir den Kopf, damit er sich nicht bewegte. Das hier haben wir genommen, um die Haut aufzuschlitzen."
Boxtraining in Lagos Stadtteil Mushin. Adetutu Alabis Tochter Peace wollte unbedingt mitmachen. Adetutu unterstützt sie: Sie will ein selbstbewusstes Kind. "Wenn jemand mich fragt, dann kämpfe ich!", sagt Peace. Ob sie irgendwelche Verzierungen an ihrem Körper möchte, soll Peace später selbst aussuchen können – selbstbestimmt. Traditionelle Ziernarben in ihrem Gesicht – für sich hat Adetutu ihren Frieden damit gemacht. Fotograf Santos Akihlele findet, Kultur ließe sich schon übersetzen, aber jeder müsse doch bitte für sich selbst entscheiden dürfen. "Kultur ist doch etwas Flüchtiges, wie alles. Der neue Nigerianer sollte individuell entscheiden können. Lass die Leute selbst aussuchen, was mit ihrem Körper gemacht wird, wie sie leben wollen. Ob sie Ziernarben im Gesicht möchten, oder lieber auf ihrem Körper, wo sie es möchten. Genauso wie bei Tattoos." Und jeden so akzeptieren, wie er ist – und wie er aussieht. Das ist es, wofür Adetutu eigentlich kämpft – als Model.
Autorin: Caroline Hoffmann, ARD-Studio Nairobi
Stand: 12.01.2020 21:05 Uhr
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