So., 11.08.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Rumänien: Ein Dorf zieht nach Berlin
In der Harzer Straße im Berliner Bezirk Neukölln ist ihre neue Heimat. Schon der Name klingt ein wenig nach Sozialhilfe. Und in der Tat, viele der Neuankömmlinge beantragen Leistungen nach dem Hartz IV Gesetz. Es handelt sich überwiegend um Roma aus einem besonderen Dorf in der rumänischen Provinz: Aus Fantanele. 700 Bürger sind von dort bereits nach Berlin umgezogen, Dutzende weitere Familien bereiten sich auf die Reise vor. Eine klassische Armutswanderung.
Eine Reportage von Susanne Glass, ARD Studio Wien
Nur 35 Kilometer nördlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest, aber in einer anderen Welt. Fantanele gehört zu einer Gemeinde mit 7000 Einwohnern, die meisten Roma. Vor dem Rathaus: Uralte Bekanntmachungen der EU und das Plakat: "Schick Dein Kind nicht zum Betteln! Betteln beendet die Kindheit!“
Wir haben einen Termin beim Vizebürgermeister. Er ist nicht da. Wann er kommt, wissen sie nicht. – Wir wiederum ahnen nicht, welche Überraschungen uns noch bevorstehen.
Wir sind hier, weil in diesem Amt extrem häufig ein bestimmtes Formular nachgefragt wird. Zur Vorlage bei den deutschen Behörden. Eine Verzichtserklärung. Das Amt bestätigt, dass der rumänische Staatsbürger ab sofort auf rumänische Sozialleistungen verzichtet. Nur damit ist er dann berechtigt, in Deutschland finanzielle Unterstützung zu beantragen.
Marian Vasile will das demnächst tun. Gerade hat er sein drittes Kind angemeldet. Umgerechnet nur 10 Euro Kindergeld zahlt der rumänische Staat. Andere regelmäßige Einnahmen hat die Familie nicht. Er weiß, dass man in Deutschland Kindergeld bekommt, wenn man sich dort als selbstständiger Unternehmer anmeldet. Und zwar pro Kind mehr Geld als ein Lehrer in Fantanele verdient. Deshalb will er da hin.
Im Zimmer nebenan, in der Gemeindebücherei, läuft für die Dorfkinder ein Feriennachmittagsprogramm. Anders als in vielen Roma-Dörfern, gehen hier alle zur Schule. Allerdings nur in den Pflichtjahren, weiterführende Klassen gibt es nicht.
Und wer hat Verwandte in Deutschland? So gut wie alle. "Und sie werden uns nachholen, weil es dort viel besser ist.“
Wir wollen nun nicht länger auf den Vizebürgermeister warten. Aber gerade als wir ins Dorf aufbrechen, fährt er vor, steigt aus und - brüllt uns an: „Habt ihr mein Auto gefilmt?! Warum habt ihr mein Auto gefilmt? Nein, Euch werde ich kein Interview mehr geben!“
Lange Beschwichtigungsversuche später erfahren wir, was der Vizebürgermeister Constantin Pandele so wütend macht. Es waren schon einige deutsche Journalisten hier, oft gemeinsam mit Politikern aus Berlin-Neukölln. Alle haben sie sich später in ihren Artikeln darüber mokiert, dass er so ein großes, teures Auto fährt. „Dabei ist doch viel wichtiger, dass sie darüber berichten: Wenn unsere Leute hier bleiben sollen, brauchen wir wirtschaftliche Hilfe aus Deutschland. Vielleicht ein kleines Fabrikchen. Unsere Leute sind fromme Christen. Sie gehören der Pfingstgemeinde an. Das heißt: Nicht rauchen, nicht trinken, nicht betteln, nicht klauen, nicht fluchen, nicht spucken.“
Zu diesen Regeln gehört außerdem: Keine Verhütung. Auch wenn viele auswandern, an Nachwuchs mangelt es jedenfalls nicht. Sie bereiten für den Abend eine Hochzeit vor. Viele Gäste sind aus Deutschland angereist.
"Sprechen Sie deutsch?“ "Ein bisschen.“ "Und wo leben Sie in Deutschland? In Berlin?“ "In München?“ "Neukölln!“ "Seit wann?“ "3 Jahre.“
Wir werden sehr herzlich zum Fest am Abend eingeladen. Fast das ganze Dorf wird kommen. "Spricht jemand von ihnen Deutsch?“ "Ein bischchen…“
Nein, auch sie spricht nicht wirklich Deutsch, obwohl sie seit Jahren in Berlin lebt. Aber ihre Kinder, erzählen sie, die sprechen fließend. Sieben hat sie, alle in Berlin-Neukölln auf der Schule. Mit dem achten ist sie schwanger. Die Männer arbeiten als Abriss-Unternehmer, auf Baustellen. "Alles ganz legal, angemeldet, mit Papieren.“
Mit Roma, die im Ausland betteln und stehlen, wollen sie auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden. Sie sind legal dort und clever. Denn durch die Anmeldung eines Gewerbes haben sie Anspruch auf Kindergeld und andere Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Macht zusammen jeden Monat unterm Strich eine für hiesige Verhältnisse erkleckliche Summe - ein bescheidener Wohlstand, von dem sichtlich das ganze Dorf profitiert.
Begonnen hat die Abwanderung Ende der 90er Jahre auch mit einer Hochzeit, allerdings nicht so groß, wie unsere heute. Ein deutscher Sozialhilfeempfänger heiratete eine Frau aus dem Dorf. Die holte Familie nach, Freunde, Bekannte, Nachbarn…
"Habt ihr gute Noten in der Schule?“ “Ich habe eine eins bei Sport, eine eins in Musik, , eine in Deutsch…“
Er hofft, dass ihn sein Sohn ihn im deutschen Fernsehen sieht: "Schau, Söhnchen Krautwickel, die Du so liebst!“ Den Sohn hat er Helmut getauft, nach dem großen Helmut Kohl.
"Und Gott segne die deutsche Präsidentin und die Chefs der Stadt Berlin und die ganze Berliner Bevölkerung – Gott gebe ihnen Friede und Freude!“
Bei der Hochzeit am Abend treffen wir auch den Ersten Bürgermeister, der genauso wie sein Stellvertreter betont, wenn Deutschland eine weitere Abwanderung verhindern wolle, müsse es Geld nach Fontanele schicken. Der rumänische Staat habe ja keines.
"Wir brauchen Hilfsprojekte zur Verbesserung der Wirtschaft, der Bildung, der Gesundheitsversorgung: Nur dann bleiben die Leute.“ "Hallejuja, Hallejuja!“
Das frischgetraute Ehepaar will vorerst in Fontanele bleiben. Aber alle wissen, dass wohl schon morgen wieder eine andere Familie im Rathaus Papiere für die Auswanderung beantragen wird. Sie werden dann in Berlin-Neukölln bei Verwandten oder Freunden unterkommen. – Dort eben enger zusammenrücken, wie sie es auch hier tun, weil es ihrer Religion und Tradition entspricht, dass auch ungeladene Gäste nicht abgewiesen werden.
Stand: 15.04.2014 11:04 Uhr
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