So., 27.04.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
China: Die gestohlenen Mädchen
Cheng kommt etwas zu spät zur Schule seiner Tochter. Der Vater will sie abzuholen, aber das Mädchen ist spurlos verschwunden. Neun Jahre ist das her, neun Jahre voller Schmerzen, voller Ungewissheit für die Eltern. Sie suchen weiter und kämpfen die ganze Zeit auch gegen ignorante Behörden in der chinesischen Provinz. Die lokale Polizei kümmert sich ungern um solche Fälle, sie sind zeit- und geldintensiv und selten von Erfolg gekrönt. Das macht sich schlecht in der Statistik. Cheng und seine Frau gelten inzwischen als Störenfriede. Statt Hilfe vom Staat gibt es Repressionen. Dabei ist Mädchenhandel in der Volksrepublik ein weitverbreitetes Verbrechen. Neben den Händlern profitieren vor allem die Eltern von Jungen, denn mit dem Kauf eines Mädchens kaufen sie eine Braut für den Sohn. Christine Adelhardt (ARD Peking) auf den Spuren eines traurigen aber lukrativen Geschäftes.
Es ist immer wieder ein schwerer Gang, ein tieftrauriges Erlebnis für Su Changlan. Finanziert durch Spenden einer amerikanischen Hilfsorganisation unterstützt Su Eltern, die nach ihren Kindern suchen. Kinder, die einfach verschwunden sind, gestohlen, entführt, verkauft.
Zurück bleiben verzweifelte Eltern wie Ladenbesitzer Cheng und seine Frau. Herr Cheng wollte seine fünfjährige Tochter von der Schule abholen. Er kam ein bisschen zu spät und sie war nicht mehr da. Das war vor neun Jahren. Jede freie Minute widmen er und seine Frau seither der Suche. Mit Plakaten und Flugblättern fahnden sie nach ihrer Tochter. Die Eltern verwenden ihr ganzes Geld darauf. Der Laden läuft schlecht, doch sie bleiben. Vielleicht erinnert sich die Tochter ja an diesen Ort und findet eines Tages zurück. "Mein Mann und ich werden nie aufgeben", sagt die Mutter. "Wir werden immer weiter suchen. Und eines Tages werden wir sie finden. Wir geben niemals auf, egal wie schwer und bitter es ist. Unser Leben ist eine Qual."
Die lokale Polizei kümmert sich ungern um solche Fälle, denn sie sind zeit- und geldintensiv und selten von Erfolg gekrönt. Das macht sich schlecht in der Statistik. Cheng und seine Frau gelten inzwischen als Störenfriede. Statt Hilfe vom Staat gibt es Repressionen. "Als ich in einer nahegelegenen Stadt nach meiner Tochter suchen wollte, haben Polizisten mein Auto demoliert", beklagt sich der Vater. "Sie wollten nicht, dass ich öffentlich nach meinem Kind suche und sie haben versucht, mir meine Plakate wegzureißen. Sie finden, die Gesellschaft ist sehr stabil und meine Aktionen machen sie instabil."
10.000 Kinder werden jedes Jahr entführt. Das ist die offizielle Zahl. Aber die Dunkelziffer ist hoch. Andere Schätzungen gehen von bis zu 70.000 Kindern aus. Anders als die lokalen Behörden geht die Zentralregierung gegen Kinderhändler vor. Eine spezielle Eingreiftruppe macht im ganzen Land Jagd auf sie. Immer wieder werden spektakuläre Erfolge im Staatsfernsehen präsentiert. Allein bei dieser Aktion fand die Polizei 382 Kleinkinder und nahm mehr als 1.000 Personen fest. Getarnt als Adoptions-Agentur hatte der kriminelle Händlerring für seine Vermittlung von Kindern geworben.
In Dörfer wie dieses werden die Kinder dann verkauft. Su hilft hier Frauen, die ihre leiblichen Eltern suchen. Menschenhändler brachten auch Xiao Guangyan hierher. Da war sie sieben. Die Familie hatte drei Söhne, für den jüngsten war sie als Frau vorgesehen. "Ich habe meine Eltern schrecklich vermisst. Aber ich habe mich nicht getraut nach ihnen zu rufen. Ich habe ihre Namen in meinem Herzen behalten und immer an sie gedacht." Xiao Guangyan wächst als Quasi-Adoptivtochter auf. Auf dem Land wollen viele Eltern lieber Söhne. Wegen der rigiden Geburtenkontrolle gibt es in China daher zu wenige Frauen. Von klein auf weiß Xiao Guangyan, dass sie ihren neuen Bruder später heiraten muss. "Die gekauften Kinder gehen meist nicht zur Schule, können wenig lesen und schreiben", sagt Su. "Die neuen Familien üben Druck aus und verhindern, dass die Kinder nach ihren Eltern suchen. Sie haben Angst, dass sie sonst zurückgehen würden. Aber sie haben sie ja gekauft, damit sie später die Frauen ihrer Söhne werden."
Xiao Guangyan musste sich in ihr Schicksal fügen. Seit mehr als 20 Jahren ist sie nun schon mit Wu Hanliang verheiratet. Die beiden haben längst selbst drei Kinder. Eine Tochter besucht die Universität. Aber Xiao Guangyan hat die Vergangenheit nie losgelassen. Sie wollte wissen woher sie stammt, wer ihre leiblichen Eltern sind. Durch Zufall erfuhr sie von der amerikanischen Hilfsorganisation und lernte Su kennen. Der chinesische Staat hilft seinen Bürgern bei solchen Suchen nicht. Erst über Su’s Netzwerk fand Xiao Guangyan tatsächlich ihre Eltern. Beim Wiedersehen wurde die verlorene Tochter mit einer roten Schleife geschmückt. Seitdem besucht sie Vater und Mutter regelmäßig. Der Mann von Xiao Guangyan hat die Suche seiner Frau unterstützt. Das tun nicht viele Männer, denn das Thema bleibt ein Tabu und auch er spricht nicht gern darüber wie das damals war, als er plötzlich seine Schwester heiraten musste. "Anfangs war das ungewohnt. Aber dann hat man sich dran gewöhnt. Nach ein bis zwei Jahren." Wolltet ihr euch nie selbst einen Partner aussuchen? "Damals war es hier noch sehr konservativ. So was war nicht vorgesehen." Das Schicksal von Xiao Guangyan ist kein Einzelfall. Tausende verkaufter Mädchen in ganz China suchen nach ihren leiblichen Eltern. Meist heimlich, gegen den Willen ihrer Männer. Su’s Hilfsorganisation finanziert Suchaktionen und den Aufbau einer DNA Datenbank. Suchende Eltern und suchende Kinder geben Genproben ab Viele sehen darin die einzige Chance, sich wieder zu finden, weil die Regierung bislang versagt hat.
Zusammen mit Eltern gestohlener Kinder macht Su sogar öffentlich aufmerksam auf das Problem. Das ist heikel. Denn Aktionen wie diese sind in China verboten. Wegen Störung der öffentlichen Ordnung ist Su schon häufiger von der Polizei festgenommen worden. Aber diesmal geht alles gut. "Ich denke Eltern dürfen die Hoffnung nie aufgeben und müssen selbst aktiv werden. Zudem brauchen wir mehr Engagement der Zivilgesellschaft. Und natürlich muss die Regierung noch mehr Anstrengungen unternehmen und helfen, anstatt unsere Arbeit zu behindern."
Von den Passanten bekommt Su viel Zuspruch. Privatpersonen engagieren sich. Das ist neu in China, wo der Staat üblicherweise alles in Eigenregie regeln will. Aber immer mehr Menschen in diesem Land verstehen sich als Bürger, wollen Rechte. Und gerade Eltern vermisster Kinder wünschen sich Hilfe vom Staat wenn sie nach ihren Kindern suchen.
Stand: 28.04.2014 15:36 Uhr
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