So., 03.08.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Japan: Tauchende Omas
"Guten Morgen, allerseits, hier spricht die Fischereigenossenschaft. Ihr könnt heute tauchen gehen. Abalone, wilde Austern und rote Seeigel sind erlaubt. Die schwarzen Seeigel lasst ihr heute bitte noch im Meer." Darauf haben sie gewartet, die Damen auf ihren Mopeds. In Neopren und Spitzenhäubchen geht es jetzt geradewegs zum Hafen. Die vier Frauen sind Ama – Muscheltaucherinnen. Shino Kamegawa ist die jüngste unter ihnen – noch gänzlich unerfahren. Heute wird sie zum dritten Mal erst in die Fluten steigen. "Ich habe eingeheiratet in die Ama-Familie, ich komme aus Obari. Da gibt‘s kein Meer, nur Berge. Aber ich mag das Wasser und deswegen", sagt Shino, "freue ich mich so sehr auf den Fang heute!"
Frauen des Meeres, so werden die Ama-san in Japan genannt. Fast ohne Hilfsmittel tauchen sie vor der Küste Japans nach Muscheln, Schnecken, Algen. Ein Gewerbe, tausende Jahre alt, voller Tradition und Brauchtum.Kazuyo Kamegawa, Ama-Taucherin, erklärt: "Wir machen erst mal Feuer. Später im Wasser wird es eiskalt. Wenn der Körper zu kühl wird, dann kannst du nicht mehr richtig gucken."
Die Kunst des Ama-Tauchens wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die erfahrenen Taucherinnen stammen alle aus einer Familie. Jetzt weihen sie die junge Shino in die Geheimnisse der Ama ein. "Heute fangen wir Abalone. Du kannst auch die Agar-Agar Algen fangen. Das sind die, die aussehen sehen wie ungekämmte Haare."
Die Shima Halbinsel, im Südwesten Japans, ist das Land der Ama. Eine wunderschöne Küste. Mit unberührten Stränden, rauschenden Wäldern und schroffen Felsen. 100 Tage im Jahr gehen die Ama hier ihrem Gewerbe nach. Von April bis September. Und selbst bei Wassertemperaturen um die 5 Grad. Mit Tabakblättern reiben die Taucherinnen ihre Masken ein. Damit die Brille Unterwasser nicht beschlägt. Die Frauen gelten seit jeher als besonders geeignet für den Job – mit ihrem höheren Fettanteil im Körper. Anders gesagt, die Männer sind Mimosen. Ihnen wird schneller kalt und deswegen steuern sie, wenn überhaupt, nur die Boote. Das Tauchen hat die mittellosen Frauen stark gemacht. Mit den Meerestieren ließ sich früher viel Geld verdienen.
Atsuko Uemura, Ama-Taucherin, erzählt: "Wir haben alle hier eingeheiratet in die Ama-Familien. Dann sind wir einfach mit ins Meer gegangen. So haben wir geholfen, dass die Familie ein gutes Einkommen hatte." Oben an der Luft sind sie vielleicht die alten Frauen. Aber unten im Wasser sind die Ama in ihrem Element. Langsam gleiten Shino und die anderen Damen in die Tiefe. Die Strömung unter Wasser ist enorm stark. Vor allem aber tauchen die Frauen ohne Sauerstoffflasche. Nur mit Maske und Flossen suchen sie nach den Schätzen des Ozeans. Mit erstaunlicher Ruhe und Gelassenheit, manchmal bis zu zwei Minuten lang, ohne Luft zu holen.Atsuko Uemura, Ama-Taucherin, sagt: "Warum ich so schreie? Wenn ich wieder hoch komme, habe ich ja keine Luft mehr. Ich muss dann meinen Rhythmus wiederfinden. Dann schreie ich. Die anderen pfeifen. Oder sprechen laut vor sich hin. Jeder hat seinen eigenen Trick."
Immer wieder tauchen die Ama elegant zum Meeresgrund. Abalone, Seeigel, Schnecken, Algen. Hummer, Tintenfisch, Oktopus. Man braucht Erfahrung, um all das inmitten der Felsen zu entdecken. Aber auch die junge Shino ist schließlich erfolgreich. Nach zwei Stunden verlässt die Frauen die Kraft. Shigeno Matsui wird bald 80 Jahre alt. An Bord geht es jetzt nur noch auf allen Vieren. "Die anderen haben‘s am Herzen, die haben keine Muckis mehr. Aber weil ich so gesund und fit bin, kann ich noch sehr gut tauchen."
Was die Ama fangen dürfen, ist streng reglementiert. Die Muscheln nicht zu klein, die Schnecken nicht zu jung. Vielleicht hat auch deshalb die Tradition so lange überdauert. Trotzdem stehen die Ama vor einem dramatischen Wandel: Es fehlt der Nachwuchs. Junge Frauen gehen lieber zum Studieren nach Tokio, statt sich im Wasser abzustrampeln. Auch Shino hat zu kämpfen. "Müde bin ich nicht, Die Muskeln tun auch nicht weh. Aber mir ist richtig übel. Wegen der Wellen. Ich glaube, ich bin seekrank."
Die Meerjungfrau – vielleicht ist sie eine Erfindung aus Japan. Jung, schön, exotisch. Ein romantisches Bild, das die Ama-Kultur weit über Japan hinaus berühmt gemacht hat. Dabei war das Tauchen für die Frauen immer schon ein Knochenjob. Shigeno Matsui, Ama-Taucherin, erläutert: "Früher gab es ja noch keine Tauchanzüge. Zur Zeit meiner Schwiegermutter da hatten die Ama nur ein Tuch um die Hüften. Sonst gar nichts."
Die Meeresschönheiten von einst sind allesamt in die Jahre gekommen. Die älteste Ama im Dorf ist 97 Jahre alt. Welche Zukunft haben die Taucherinnen noch? Einmal im Jahr bitten die Damen bei den Göttern um Beistand. Shino Kamegawa hofft: "Der Ama-Beruf soll nicht aussterben. Das wünsche ich mir. Ich hoffe, dass, so wie ich, noch viele junge Frauen Ama werden." Die alten Taucherinnen haben Shino fest in ihr Herz geschlossen. Irgendwann wird es auch an ihr sein. dass den Ama-Frauen und ihrer Kultur nicht die Puste ausgeht.
Autor: Philipp Abresch / ARD-Studio Tokio
Stand: 04.08.2014 12:57 Uhr
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