Sa., 28.04.12 | 17:03 Uhr
Revisionsrücknahme
Immer häufiger passiert es in letzter Zeit, dass große Unternehmen, meist Banken und Versicherungen, kurz vor einer Entscheidung ihre vor dem Bundesgerichtshof eingelegte Revision zurückziehen. Sie zahlen lieber im Einzelfall, als zu riskieren, dass eine Welle an Folgeklagen auf sie zukommt. Durch diese Praxis verhindern sie ein Grundsatzurteil, das vielen anderen betroffenen Verbrauchern möglicherweise geholfen hätte. Aber wie kann das sein?
Der Bundesgerichtshof
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist das höchste deutsche Gericht in Zivil- und Strafsachen. Hier werden Urteile der unteren Instanz überprüft.
Der Klageweg durch die Instanzen
Klagen in Zivilsachen, also wenn um die Miete oder das Erbe, den Kaufvertrag oder das Kleingedruckte in den Versicherungsbedingungen gestritten wird, werden von den Klägern entweder am Amtsgericht oder am Landgericht eingelegt. An welchem von beiden Gerichten geklagt wird, hängt davon ab, wie hoch der Wert ist, um den gestritten wird.
Gegen das Urteil der ersten Instanz kann man in Berufung gehen. Das nächsthöhere Gericht überprüft den ganzen Fall dann noch einmal, hört auch nochmal die Zeugen und fällt letztlich ein Urteil, das entweder die erste Entscheidung bestätigt oder aber von ihr abweicht. Diese zweite Instanz, also die Berufungsinstanz, ist das Landgericht, wenn in der ersten Instanz ein Amtsgericht geurteilt hat. Kam das erste Urteil hingegen vom Landgericht, ist die Berufungsinstanz das Oberlandesgericht.
Das Urteil dieser zweiten Instanz kann dann auf Fehler überprüft werden. Bei Streitigkeiten mit geringem Streitwert vom Oberlandesgericht, bei bedeutenden Sachen vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Der Bundesgerichtshof prüft nicht den gesamten Sachverhalt, er hört auch keine Zeugen mehr. Der BGH überprüft nur, ob die Berufungsinstanz das Recht, also die Gesetze richtig angewandt hat. Oft ist es auch unter verschiedenen Gerichten umstritten, wie ein Gesetz genau zu verstehen, beziehungsweise auszulegen ist. Der BGH entscheidet diese Frage dann in der Revision.
Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung werden durch diese Grundsatzurteile des Bundesgerichtshofs damit geprüft und entschieden. Die unteren Instanzen in ganz Deutschland können sich dann daran orientieren. Ein Urteil des BGH sorgt also dafür, dass ein Gericht in München dieselbe Rechtsfrage nicht völlig anders entscheidet, als ein Gericht in Frankfurt oder Berlin.
Parteiherrschaft
In den letzten Jahren wurden immer wieder Grundsatzurteile von großen Unternehmen, vor allem von Versicherungen und Banken verhindert. Und das kommt so:
Im Zivilprozess entscheiden immer die so genannten Parteien, also Kläger und Beklagter, über welchen Sachverhalt entschieden wird. Es liegt in der Hand der Parteien, welche Unterlagen dem Gericht eingereicht werden und welche Zeugen dem Gericht benannt werden.
Außerdem können die Parteien niemals dazu gezwungen werden, einen Prozess zu führen, beziehungsweise weiterzuführen. Kläger und Beklagter können sich jederzeit einigen, sich also vergleichen und den Prozess damit beenden. Der Beklagte kann den Prozess von sich aus beenden, indem er die Forderung des Klägers anerkennt. Der Kläger hingegen kann seine Klage bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückziehen. Auch damit wird der Prozess beendet.
Die Berufung oder die Revision kann zudem jederzeit von demjenigen, der sie eingelegt hat, wieder zurückgezogen werden. In all diesen Fällen darf das Gericht dann kein Urteil mehr fällen. In der Juristensprache nenn man das "Parteiherrschaft". Ein ganz wichtiges Prinzip im Zivilrecht.
Die Revision am BGH kann also auch noch kurz vor oder sogar in der mündlichen Verhandlung zurückgezogen werden. So steht es im Gesetz.
Grundsatzurteile werden verhindert
Das Problem entsteht dadurch, dass die großen Unternehmen das anscheindend immer dann tun, wenn sie im Verfahren vor dem BGH Anzeichen dafür bekommen, dass sie unterliegen werden. Denn ein negatives Grundsatzurteil würde dazu führen, dass sie in vielen anderen, vergleichbaren Fällen an den Gerichten in ganz Deutschland ebenfalls unterliegen und in der Folge viel Geld zahlen müssten.
Durch den Rückzieher bekommt der einzelne Verbraucher, also der, der am BGH schon auf die Verhandlung gewartet hat, übrigens Recht und damit sein Geld. Er kann sich freuen. Etliche Menschen in ganz Deutschland, in deren Verfahren sich die gleichen Rechtsfragen stellen, warten jedoch vergeblich auf die Urteile aus Karlsruhe. Die unteren Gerichte können sich an den nicht gesprochenen Urteilen des BGH natürlich auch nicht orientieren.
Änderung des Gesetzes
Durch die inzwischen verbreitete Praxis der Revisionsrücknahmen in letzter Minute und die damit verbundene Verhinderung von Grundsatzurteilen mehren sich die Stimmen, die eine Gesetzesänderung fordern. Die so genannte Parteiherrschaft soll nach den meisten Vorschlägen jedoch nicht begrenzt oder gar abschafft werden. Die Möglichkeit, die Revision zurückzuziehen, soll also weiterhin bestehen bleiben. Denn: Andernfalls würde eine Partei gezwungen werden das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof aufrechtzuerhalten, was mit den Grundsätzen des Zivilrechts nicht vereinbar wäre.
Volkert Vorwerk, Rechtsanwalt beim BGH, hat deshalb einen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet, nachdem die Revisionen auch weiterhin zurückgezogen werden dürfen, der BGH aber dennoch sprechen darf:
Bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung dürften die Richter des Bundesgerichtshofs trotz Beendigung des Verfahrens eine so genannte Leitentscheidung veröffentlichen. An dieser könnten sich dann die unteren Gerichte in ganz Deutschland bei vergleichbaren Fällen orientieren, Verbraucher würden deutschlandweit davon profitieren. Rechtsklarheit würde geschaffen.
Der Vorschlag von Volkert Vorwerk liegt inzwischen im Bundesjustizministerium in Berlin und wird dort, genauso wie andere Vorschläge und auch Stellungnahmen von den aktuellen Richtern des BGH, geprüft.
Auch Verbraucherschutzverbände und ehemalige Richter des Bundesgerichtshofs fordern eine Änderung des Gesetzes, damit der BGH seine Aufgaben uneingeschränkt wahrnehmen kann: Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung klären, das Recht fortbilden und eine einheitliche Rechtsprechung sichern.
Stand: 14.06.2013 15:05 Uhr