Fr., 06.04.12 | 19:15 Uhr
Das Erste
Inge Meysel
Als Kratzbürste war sie gefürchtet, als "Mutter der Nation" geliebt: Inge Meysel, die sich selbst gar nicht als mütterlichen Typ sah. Nicht nur, dass sie kinderlos geblieben ist, auch ihre kämpferische Natur widerspricht eigentlich dem Nachkriegs-Mutterbild. Erst spät wurde die Schauspielerin öffentlich auch als streitbare Feministin wahrgenommen, die sich offen zu frühen lesbischen Erfahrungen bekannte.
Politisch engagiert war Inge Meysel von Anfang an. Schon mit 15 hält sie bei den Jungdemokraten eine Rede gegen die Todesstrafe, 1978 ist sie mit Alice Schwarzer und anderen Klägerin im "Sexismus-Prozess" gegen den "Stern". Sie geht gegen den Abtreibungsparagraphen auf die Straße, setzt sich ein für den Kampf gegen Aids und für Sterbehilfe. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, auch wenn sie dabei andere vor den Kopf stößt.
Das sei eine Folge der Nazizeit, so hat sie es selbst erklärt. Inge Meysels Theaterkarriere hatte gerade begonnen, da kam das Berufsverbot. Denn nach den Rassegesetzen der Nazis war sie "Halbjüdin". Viele Kollegen haben sich bereits 1933 geweigert, mit ihr zu spielen; ihren Lebenspartner, den Schauspieler Helmut Rudolph durfte sie nicht heiraten, musste sogar die gemeinsame Wohnung räumen. "Ich bin immer in Kampf- und Abwehrstellung, weil ich mit 23 wegen der Nazis nicht mehr arbeiten durfte. So habe ich eine Abwehr in mir hochgezüchtet, damit mich niemand mehr verletzen kann", sagte sie einmal über sich. Ihr Vater, der jüdische Kaufmann Julius Meysel, wurde enteignet und überlebte die Nazizeit im Versteck.
Nach dem Krieg trennte Inge Meysel sich von Helmut Rudolph und heiratete den neun Jahre jüngeren Theateroffizier John Olden. Die Liebe ihres Lebens. Er wurde Regisseur und brachte sie zum Fernsehen. Die Aufzeichnung des Theaterstücks "Fenster zum Flur", wo sie die Portiersfrau Anni Wiesner spielt, soll 1959 ihren Ruf als "Mutter der Nation" begründet haben. Manche meinen aber, es waren "Die Unverbesserlichen", eine Fernsehreihe über die kleinbürgerliche Berliner Familie Scholz, die von 1965 bis 1971 immer zum Muttertag ausgestrahlt wurde.
So wie in der Rolle der Mutter Scholz spielte Inge Meysel oft resolute Frauengestalten mit rauer Schale. Sie wurde zur beliebtesten deutschen Volksschauspielerin. Neben vielen Theaterstücken und Fernsehserien spielte sie in Filmen mit, von "Nasser Asphalt" 1958 und "Rosen für den Staatsanwalt" 1959 bis zu "Die blauen und die grauen Tage" 1999 und zuletzt 2001, da war sie 91 Jahre alt "Die Liebenden vom Alexanderplatz". Noch in ihrem Todesjahr war sie im "Polizeiruf 110" zu sehen, in der Folge "Mein letzter Wille", da war sie schon dement.
Der Film über Inge Meysel zeichnet das Porträt einer ungewöhnlichen Frau, die in ihrem Leben konsequent moralisch gehandelt hat. Diese Haltung wurde zum Schluss oft als Masche abgetan, doch das war sie nie, machen Interviews mit engen Vertrauten wie der Freundin Ingeborg Wölffler und "Tagesschau"-Sprecher Wilhelm Wieben deutlich. Auch Monika Peitsch, Meysels Filmtochter in "Die Unverbesserlichen", kommt zu Wort und Angela Marquardt, heute SPD, früher PDS. Der unangepassten jungen Politikerin mit Punkfrisur finanzierte Inge Meysel ein Jahr lang das Studium.
Film von Ulrike Bremer
Ulrike Bremers Filmografie (Auswahl)
2011
Au revoir Mr. Euro – Europa, die Krise und sein Abschied (45' ARD)
2010
Joachim Król – Schauspielkunst mit leisen Tönen (45' ARTE) | Singapur – Stadt im Garten (45' ARTE)
2009
Legenden – Rex Gildo (45' ARD) | Dünn bis in den Tod – Meine Freundin die Magersucht (52' ARTE) | Monica Bleibtreu oder Die späte Liebe zum Erfolg (45' ARTE)
2008
Ein Fisch macht Geschichte – Der Kabeljau (43' ARTE)
2007
Neue Väter – Koran und Kinderkram (45' ARTE)
2006
Die Kloster GmbH – Beten und Arbeiten (43' ARTE) | Ein hessischer Amerikaner – Das Leben des Toby E. Rodes (45' HR) | Bhagwan, Beatles, Bollywood – Indien ist anders (52' ARTE)
2005
Hitlers Stellvertreter – Der Fall des Rudolf Hess (ARD)
2004
Die großen Kriminalfälle – Der Elternmord von Morschen (ARD)
2003
Die Sommerfrische – der diskrete Charme des Camping (20' ARTE) | Katastrophen in Hessen – Die tödliche Flugschau in Frankfurt (45' HR)
2000
Die Holzmannstory – Aufstieg und Fall eines Weltkonzerns (HR) | Gott und die Welt: Und übermorgen bin ich alt (30' ARD)
1999
ARD-exclusiv: Der Turmbau zu Frankfurt (30' ARD) | Maria von Marpingen – Ein Dorf, seine Seherinnen und seine Erscheinungen (30' HR) | Die Auserwählten – Priesteramtskandidaten und ihre Lebensläufe (30' ARD) | Der Papst, die Bischöfe und die Frauen – Protokoll einer Dienstreise nach Rom (30' HR)
1998
Ausgedient – Vom Leben in einem Schweizer Dienstbotenheim (45' ARTE)
1997
Spiel auf Zeit – Der Skandal um die Wiedergutmachung (60' ARTE) | Laufsteg ins Glück – Die Models und ihre Macher (45' ARD) | ARD-exclusiv: Erfolgreich, jung und blind (30' ARD)
1996
höchstpersönlich – Veruschka Gräfin von Lehndorff (30' ARD) | Die wirren Jahre – Deutschland 1945-1948, Täter in Angst (45' ARD/ 60' HR) Pillographien – 7 Leben mit der Pille (45' ARTE)
1995
500 Punkte bis Rio – als Verkäufer Meier von der Banane flog (45' ARD)