Do., 03.01.13 | 04:45 Uhr
Das Erste
Russland, mein Schicksal (2)
Die zweite Station der Bilderreise durch die Geschichte Russlands ist Sankt Petersburg, die Stadt, die mehrfach ihren Namen geändert hat und die in immer neuen Facetten von der Suche der Russen nach ihrer Identität zwischen Ost und West erzählt. Als Russlands „Fenster zum Westen" wurde sie 1703 von Zar Peter dem Großen im Sumpfland der Ostseeküste aus dem Nichts gegründet.
Dass die Stadt mit ihren prachtvollen Palästen, goldenen Kuppeln und breiten Boulevards bis heute ein einzigartiges architektonisches Denkmal ist, hat viel mit einem Mann aus dem Tessin zu tun: Der Architekt Domenico Trezzini schuf den Masterplan für die neue Metropole, legte den Grundstein für das Straßen- und Kanalnetz, lieferte die Pläne für Garten und Paläste, für Brücken und Parkanlagen. Doch Sankt Petersburg ist auf Knochen gebaut: Zehntausende Arbeiter verloren bei den Bauarbeiten ihr Leben, durch Unfälle oder Krankheiten.
Und auch Domenico Trezzini wurde nicht der Ruhm zuteil, den er verdient hätte. Während er rasch in Vergessenheit geriet, entwickelte sich „seine" Stadt innerhalb weniger Jahrzehnte zum Zentrum der russischen Kunst und Wissenschaft.
Einhundert Jahre später machte dort der junge Dichter Alexander Puschkin von sich reden. Revolutionär war schon, dass er auf Russisch schrieb, was bin dahin weder die Sprache des Adels noch der Literaten gewesen war. Doch das Enfant terrible Sankt Petersburgs lehnte sich in den literarischen Salons auch mit gewagten Gedichten gegen den Zaren auf - und wurde in die Verbannung geschickt. Nach seiner Rückkehr wurde ihm die Eifersucht wegen seiner Frau Natalja zum tödlichen Verhängnis: Im Januar 1837 starb er nach dem Duell mit einem französischen Baron. Doch sein Lebenswerk ist unsterblich, bis heute ist Puschkin einer der populärsten Dichter Russlands.
Sankt Petersburg ist auch der Ort, an dem die Russische Revolution 1917 ihren Anfang nahm. Als Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, hier mit Duldung der deutschen Behörden und heimlich unterstützt mit deutschem Geld die Chance zum kommunistischen Umsturz ergriff, hieß die Stadt Petrograd, 1924 wurde sie in Leningrad umbenannt. Doch was der Aufbruch zu einer besseren Welt sein sollte, mündete in eine blutige Terrorherrschaft.
Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt ihr schlimmstes Drama: Leningrad wurde 900 Tage lang von deutschen Truppen belagert. Rund eine Million Menschen starben an Hunger und Entkräftung. Die elfjährige Tanja Sawitschewa wurde Zeugin und Opfer einer der größten Tragödien der russischen Geschichte. In ihrem Tagebuch notierte sie, wie ihre Familie langsam zugrunde ging - ihre Schwester, ihre Großmutter, ihr Bruder, dann ihre Mutter. Ihr Tagebuch ist die Chronik einer sterbenden Stadt.
Erstausstrahlung: 02.01.2013