Faktencheck zu "maischberger"
Sendung vom 15.04.2024
Faktencheck
Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.
Und das schauen wir uns an:
- Welche Forderungen stellte Russland bei den Friedensverhandlungen in Istanbul?
Welche Forderungen stellte Russland bei den Friedensverhandlungen in Istanbul?
Sahra Wagenknecht (BSW) sprach sich in der Sendung für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aus. In diesem Zusammenhang erinnerte sie an die Verhandlungen, die kurz nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 in Istanbul stattfanden. Wagenknecht zitierte in der Sendung den ukrainischen Verhandlungsführer, der kürzlich gesagt habe, Russland hätte sich in Istanbul bereit erklärt, den Krieg zu beenden, wenn die Ukraine sich verpflichtet hätte, kein NATO-Mitglied zu werden. Die Hintergründe dieses Zitats schauen wir uns hier noch einmal genauer an.
Wagenknecht: "Es gibt doch einen Grund für diesen Krieg. Also, ich habe, weil mir immer wieder erzählt wird –"
Maischberger: "Nein, nein, nein."
Wagenknecht: "Nein, jetzt möchte ich mal ein paar Zitate vorlesen, weil mir die wichtig sind."
Maischberger: "Ja."
Wagenknecht: "Also, es hat der ukrainische Verhandlungsführer bei den Verhandlungen in Istanbul –"
Maischberger: "Jetzt muss ich unterbrechen, nein. Istanbul – wir kommen jetzt nicht noch mal mit Istanbul im Jahr 2022. Tun Sie mir einen Gefallen."
Wagenknecht: "Doch, ich möchte sagen, was der ukrainische Verhandlungsführer jetzt gesagt hat. Jetzt hat er das gesagt. Er hat gesagt:
'Die Russen waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir der Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet hätten, der NATO nicht beizutreten.'
Das hat der ukrainische Verhandlungsführer jetzt gesagt über die Verhandlungen in Istanbul. Wenn das stimmt, sollte man doch an das damalige Verhandlungsergebnis anknüpfen und versuchen, jetzt einen Friedensschluss auf einer solchen Grundlage zu finden. Denn es geht darum, dass man irgendwo auf einen gemeinsamen Nenner kommt."
(…)
Maischberger "Noch mal zurück zu den Verhandlungen, die es ja gab in Istanbul. Übrigens Faktencheck, es gibt eine fantastische Deutschlandfunk-Sendung zu den Fragen, wer wann was genau gesagt hat in diesen Verhandlungen. Kann ich nur empfehlen."
Wagenknecht: "Ja, aber dieses Zitat habe ich extra mitgebracht, das stimmt."
Göring-Eckardt: "Ja, dann müssen Sie es auch vorlesen."
Hintergrund: Welche Forderungen stellte Russland bei den Friedensverhandlungen in Istanbul?
Das von Sahra Wagenknecht in der Sendung erwähnte Zitat stammt aus einem Interview, das der ukrainische Politiker Dawyd Arachamija am 24.11.2023 dem TV-Sender "1+1 Ukraine" gegeben hat. Arachamija ist Fraktionsvorsitzender von Wolodymyr Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" und war als Chefunterhändler an den Istanbuler Friedensgesprächen im März 2022 beteiligt. In dem Fernsehinterview äußerte er sich u.a. zu der Frage, warum die Verhandlungen damals scheiterten:
Doch habe die ukrainische Seite dem Friedensvorschlag nicht zugestimmt, weil man kein Vertrauen in die Russen gehabt hätte, erklärte der Abgeordnete weiter. Auf Einzelheiten ging er in dem Interview aber nicht ein.
Dabei war selbst Präsident Selenskyj im Vorfeld der Verhandlungen von seiner Forderung eines baldigen NATO-Beitritts der Ukraine abgerückt – obwohl das Ziel, Mitglied des Militärbündnisses zu werden, sogar in der ukrainischen Verfassung verankert ist.
Wäre es also denkbar, in neuen Verhandlungen an diesem Punkt anzuknüpfen, wie Sahra Wagenknecht es in der Sendung nahelegte? Oder gab es schon bei den Istanbuler Verhandlungen weitere Forderungen Russlands, die einer Einigung entgegenstanden?
Warum die ukrainische Seite der Bedingung im März 2022 letztlich nicht zustimmte, darüber geben aktuelle Enthüllungen des "Wall Street Journal" Aufschluss. Nach eigenen Angaben habe das US-Medium aus informierten Kreisen ("people familiar with the negotiations") Einsicht in den Vertragsentwurf erhalten. Am 1. März 2024 berichtete man erstmals über die Details des 17-seitigen Dokuments. Demnach sei der Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft bei weitem nicht die einzige Bedingung gewesen, die Russland der Ukraine gestellt habe.
Wie das "Wall Street Journal" berichtet, habe die russische Seite über die NATO-Frage hinaus eine gravierende Abrüstung des ukrainischen Militärs gefordert. Die Regierung in Kiew hätte alle vom Westen erhaltenen Waffen zurückgeben müssen und lediglich 342 sowjetische Panzer und 519 sowjetische Artilleriegeschütze behalten dürfen. Zum Vergleich: Allein die Zahl der Panzer, die Russland seit Kriegsbeginn in der Ukraine verloren hat, beläuft sich laut Verteidigungsanalysten auf ca. 3.000 Stück. Und auch personell sollte die ukrainische Armee den russischen Forderungen zufolge deutlich schrumpfen – auf insgesamt nur noch 85.000 Soldaten. Das sind etwa dreimal weniger als zu Kriegsbeginn im Februar 2022. Aktuell verfügt die Ukraine über knapp 900.000 Soldaten.
Zusammengefasst: Russland habe dem "Wall Street Journal" zufolge eine weitgehende Abrüstung der Ukraine bei gleichzeitigem Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft gefordert. Unter diesen Umständen wäre die Ukraine einem neuerlichen Angriff durch Russland schutzlos ausgeliefert gewesen. Zwar hätten mehrere Staaten die Einhaltung des Waffenstillstands überwachen sollen, doch nach den Vorstellungen Moskaus hätte neben den USA, Großbritannien, Frankreich und China auch Russland selbst zu diesen Staaten gehören sollen. Eine vollständig unabhängige Kontrolle hätte es also nicht gegeben.
Zugeständnisse von russischer Seite seien in dem Vertragsentwurf, der bislang nicht im vollständigen Wortlaut veröffentlicht ist, nicht zu finden, heißt es in dem Bericht. Das gilt auch für die territorialen Fragen. In dem Entwurf sei festgelegt worden, dass die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim weiter unter russischer Verwaltung bleiben sollte. Über die Zukunft der weiteren durch Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine hätten Putin und Selenskyj in weiteren Gesprächen direkt miteinander verhandeln sollen, berichtet das "Wall Street Journal".
Auch wenn der ukrainische Verhandlungsführer Dawyd Arachamija diese Details in dem "1+1"-Interview nicht nannte, stellte er klar, dass seine Delegation definitiv nicht zur Unterzeichnung des Dokuments bereit gewesen sei. Außerdem widersprach er Gerüchten, wonach der damalige britische Premierminister Boris Johnson die Ukraine zur Nichtunterzeichnung gedrängt hätte.
Der Deutschlandfunk-Beitrag "Der lange Weg zum Frieden", auf den Sandra Maischberger in unserer Sendung verwies, gibt einen umfassenden Überblick über die Verhandlungsgespräche. Die Politikwissenschaftlerin und Russland-Expertin Sabine Fischer kommt darin zu folgendem Resümee: "Russland hat diese Verhandlungen nie ernst gemeint, von Beginn an nicht. Und es hat sie am Ende scheitern lassen, weil es eben von seinen Maximalforderungen zu keinem Moment abgerückt ist."
Kurz nachdem die Verhandlungen von Istanbul gescheitert waren, lösten die Bilder aus Butscha weltweites Entsetzen aus. Russische Soldaten hatten in dem Kiewer Vorort hunderte Zivilisten getötet, teils unter Anwendung von Folter. Die russische Verantwortung für die Taten, die als Kriegsverbrechen eingestuft werden, sind durch Menschenrechtsorganisationen, die ukrainischen Untersuchungsbehörden und Recherchen von Journalisten mittlerweile sehr gut belegt. Vor diesem Hintergrund wurden keine weiteren Friedensverhandlungen mehr aufgenommen.
Fazit: Es stimmt, dass Russland bei den Istanbuler Friedensverhandlungen im März 2022 forderte, die Ukraine dürfe nicht Mitglied der NATO werden. Das war aber offenbar nicht die einzige Bedingung, wie aktuelle Medienberichte zeigen. Laut Vertragsentwurf, der bislang nicht im vollständigen Wortlaut veröffentlicht ist, habe Russland eine weitgehende Abrüstung der Ukraine bei gleichzeitigem Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft gefordert. Unter diesen Umständen wäre die Ukraine einem erneuten Angriff durch Russland schutzlos ausgeliefert gewesen. Zwar hätten mehrere Staaten die Einhaltung des Waffenstillstands überwachen sollen, doch wäre Russland nach den Vorstellungen Moskaus einer dieser Staaten gewesen. Zugeständnisse von russischer Seite seien in dem Vertragsentwurf nicht zu finden, heißt es. Das gilt auch für die territorialen Fragen. Die ukrainische Seite lehnte die Forderungen ab. Nachdem im April 2022 die russischen Gräueltaten von Butscha bekannt geworden waren, wurden keine weiteren Friedensverhandlungen mehr aufgenommen.
Stand: 16.04.2024
Autor: Tim Berressem