Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 08.05.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Dagmar Rosenfeld, Yasmine M’Barek, Béla Réthy, Tarek Al-Wazir, Hubert Aiwanger, Gerhart Baum
Die Gäste (v.l.n.r.): Dagmar Rosenfeld, Yasmine M’Barek, Béla Réthy, Tarek Al-Wazir, Hubert Aiwanger, Gerhart Baum | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Ist Deutschland abhängig von importiertem Atomstrom aus dem Ausland?

Ist Deutschland abhängig von importiertem Atomstrom aus dem Ausland?

Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und der ehemalige Wirtschaftsminister von Hessen Tarek Al-Wazir (Bündnis 90/ Die Grünen) diskutieren in der Sendung u.a. über den deutschen Ausstieg aus der Atomenergie. Aiwanger behauptet, die Bundesrepublik sei seit dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland von importiertem Atomstrom aus Tschechien und Frankreich abhängig.

Streit um Energiewende: Ist Deutschland abhängig von importiertem Atomstrom? | Video verfügbar bis 15.05.2025

Aiwanger: "Die Tschechen haben jetzt 39 Prozent Atomstrom und dieselbe Zahl an Braunkohlestrom. Sie wollen jetzt Braunkohle reduzieren, Atom hochfahren und liefern uns natürlich aktuell Atomstrom, genauso wie die Franzosen. Das blenden wir aus. Wir haben die weiße Weste, und die anderen sollen sich die Finger schmutzig machen."

Al-Wazir: "Herr Aiwanger, wir können gerne einen Faktencheck machen. Natürlich gibt es einen europäischen Strommarkt, wo es hin und her geht, aber unsere Importe waren vor allem aus Dänemark und Norwegen und das ist Windstrom und Wasserkraft. Und mit Frankreich und Tschechien war es fast ausgeglichen."

Aiwanger: "Ausgeglichen! Weil wir Erneuerbare rübergeben und Atom retour kriegen. Aber das heißt ja nicht, dass wir auf deren Atomstrom verzichten können."

Al-Wazir: "Aber wenn man dann sagt, wir seien abhängig von anderen, das stimmt nicht!"

Aiwanger: "Natürlich sind wir abhängig!"

Stimmt das? Ist Deutschland abhängig von importiertem Atomstrom aus Tschechien und Frankreich?

Die Kraftwerke, die aktuell in Deutschland am Stromnetz sind, haben laut Bundesnetzagentur eine Leistung von insgesamt rund 249 Gigawatt (Stand: 15.4.2024). Zieht man die Leistung aus Wind- und Sonnenenergie ab, bleiben immer noch rund 100 Gigawatt, die auch bei Dunkelheit und Flaute zur Verfügung stehen. Laut Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) lag der höchste gemessene Strombedarf der vergangen acht Jahre in Deutschland bei 81,3 Gigawatt. Das war am 30. November 2021. Normalerweise liegt die Tagesspitze bei etwa 70 Gigawatt. Deutschland ist also nicht abhängig von Stromimporten aus dem Ausland. In den Jahren 2022 und 2023 sank der Stromverbrauch in Deutschland laut Umweltbundesamt zudem auf die niedrigsten Werte seit der Wiedervereinigung. Allerdings ist das auch auf Sondereffekte durch den Krieg in der Ukraine begründet, wie allgemeine Sparbemühungen wegen eines erwarteten Erdgas-Mangels 2022 und der Rückgang der Industrieproduktion.

Stromimporte ab dem zweiten Quartal gestiegen

Dass Deutschland seit dem Atomausstieg am 15. April 2023 mehr Strom aus dem Ausland importiert hat als in den Jahren zuvor, stimmt trotzdem. Der Stromimport ist nach dem Abschalten der letzten Atommeiler angestiegen.

Im Jahr 2023 hatte Deutschland beim Stromhandel unterm Strich einen Importüberschuss von ca. 11,7 Terawattstunden. Grund für die Importe waren niedrige Strompreise der Nachbarländer, vor allem im Sommer. Die größten Importüberschüsse entstanden im Handel mit Dänemark (10,7 TWh), Norwegen (4,6 TWh) und Schweden (2,9 TWh). Der Handel mit Frankreich und Tschechien war vergleichsweise ausgeglichen, entsprechend fielen die Importüberschüsse mit 0,4 TWh (Frankreich) und 0,1 TWh (Tschechien) vergleichsweise gering aus. (Daten: Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme)

Importe seit Atomausstieg oft günstiger als Eigenproduktion

Die gestiegenen Importe bedeuten aber nicht, dass Deutschland abhängig ist von im Ausland produziertem Strom. Denn Deutschland ist Teil des staatenübergreifenden europäischen Strommarkts, in dem die Staaten ihren Strom nach Möglichkeit immer vom preisgünstigsten Erzeuger beziehen. Strom wird also normalerweise nicht wegen Strommangels importiert, sondern weil der Strom aus dem Ausland preiswerter ist als der im Inland produzierte. Weil Wind- und Solarparks weder Brennstoff noch CO2-Emissionsrechte kaufen müssen, haben sie grundsätzlich die niedrigsten Preise. Das erklärt, warum die Importe nach dem Atomausstieg gestiegen sind: Am 15. April 2023 sind jene Kraftwerke vom Netz gegangen, die hinter den erneuerbaren Energien den zweitgünstigsten Strom produziert haben, nämlich die Atomkraftwerke. Wenn Wind und Sonne allein den Bedarf nicht decken, ist es seither oft günstiger, Strom aus dem Ausland zu importieren, als hierzulande die Gas- und Kohlekraftwerke hochzufahren.

Wie viel des importierten Stroms aus Kernkraftwerken stammt, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. In einer Analyse aus dem August 2022 legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages dar, dass sich die Erzeugertechnologie einer importierten Strommenge nicht zuverlässig zurückverfolgen lasse. Eine Annäherung könne allenfalls über den jeweiligen Strommix des Ursprungslandes erfolgen, und zwar unter der Annahme, dass sich der importierte Strom identisch zusammensetzt. Dänemark, Deutschlands größter Stromlieferant im letzten Jahr, hat keine Atomkraftwerke. Der dänische Strom stammte 2023 zu rund 80 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen. Frankreich, Deutschlands Lieferant mit dem zweitgrößten Volumen, erzeugte 67 Prozent seines Stroms mit Kernkraft. Tschechien hatte 2023 einen Kernkraftanteil von 41 Prozent in seinem Strommix. Deutschland hat 2023 also mit hoher Wahrscheinlichkeit Atomstrom aus Frankreich und Tschechien importiert, eine Abhängigkeit bestand aber nicht.

Strombedarf auch im Winter gedeckt

Die Leistung der in Deutschland produzierenden Kraftwerke reicht aus, um den gesamten deutschen Strombedarf auch in Spitzenzeiten zu decken. Gewöhnlich bezieht Deutschland aber ausländische Kraftwerke in die sogenannte Netzreserve ein. Dabei geht es nicht primär um den Strombedarf der Verbraucher in Deutschland, sondern darum, die Stabilität des Stromnetzes zu gewährleisten. Das Netz ist in den Wintermonaten stärker ausgelastet als im Rest des Jahres, weil der Strombedarf in dieser Zeit am höchsten ist. Das Problem: Im Norden Deutschlands produzieren die Windkraftwerke im Winter phasenweise zu viel Energie. Das vorhandene Stromnetz reicht nicht immer aus, um den Strom vom Norden in den Süden zu leiten. Das hat zur Folge, dass im Norden Windkrafträder abgeschaltet und Kraftwerke heruntergefahren werden müssen. Gleichzeitig müssen im Süden Kraftwerke hochgefahren werden, um den Strombedarf vor Ort zu decken. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als Redispatch. Dafür wird eine sogenannte Netzreserve vorgehalten; also Kraftwerke, bzw. zusätzliche Produktionskapazitäten, die in einem solchen Fall einspringen und die Versorgung sichern.

Die Bundesnetzagentur informierte im April 2024 – wie jedes Jahr – über den sogenannten Netzreservebedarf für den bevorstehenden Winter. Für den kommenden Winter plant die Behörde mit einem Bedarf von 6.947 Megawatt. Zum größten Teil wird dieser durch inländische Kraftwerke gedeckt. Ein kleinerer Teil von 1.367 Megawatt soll über ausländische Kraftwerke gedeckt werden, für den Fall, dass es in Deutschland Netzprobleme gibt.

Fazit: Die Aussage von Hubert Aiwanger (Freie Wähler) in der Sendung vom 8.5.2024 "Wir sind abhängig von Atomstrom aus dem Ausland" ist nicht korrekt. Zwar importiert Deutschland seit April 2023 insgesamt mehr Strom als es exportiert, der Grund dafür ist aber, dass der im Ausland produzierte Strom zeitweise günstiger ist als der aus deutschen Kraftwerken. Die Gesamtleistung der deutschen Kraftwerke ist mehr als ausreichend, um die Stromversorgung im Land jederzeit sicherzustellen.

Stand: 10.05.2024

Autor: Sebastian Stolz