Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 11.06.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Sergej Lochthofen, Nikolaus Blome, Anna Planken, Boris Palmer, Janine WIssler
Die Gäste (v.l.n.r.): Sergej Lochthofen, Nikolaus Blome, Anna Planken, Boris Palmer, Janine WIssler | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Wären Abschiebungen nach Afghanistan laut Genfer Flüchtlingskonvention möglich?

Wären Abschiebungen nach Afghanistan laut Genfer Flüchtlingskonvention möglich?

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) und die Linken-Vorsitzende Janine Wissler diskutierten in der Sendung u.a. über die politischen Folgen der Mannheimer Messerattacke. Dabei ging es auch um die Frage, ob afghanische Flüchtlinge zurück in ihr Heimatland abgeschoben werden können, wenn sie in Deutschland straffällig geworden sind. Boris Palmer befürwortete dies und bezog sich dabei auf die Genfer Flüchtlingskonvention.

Genfer Flüchtlingskonvention: Dürften Straftäter nach Afghanistan abgeschoben werden? | Video verfügbar bis 11.06.2025

Palmer: "Die Empörung ist weit verbreitet in der Gesellschaft, parteiunabhängig. Schwere Straftäter müssen wir abschieben können, auch in Krisengebiete, auch nach Afghanistan, auch nach Syrien. Denn das steht in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention, Artikel 33, da steht es drin. Und es ist ein zivilisatorischer Standard. Wenn eine Gesellschaft Hilfe leistet, darf sie erwarten, dass der, der Hilfe bekommen hat, nicht mordet, vergewaltigt oder raubt."

Stimmt das? Wären Abschiebungen nach Afghanistan laut Genfer Flüchtlingskonvention möglich?

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 schiebt die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr nach Afghanistan ab. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) begründete diese Entscheidung mit der Verantwortung des Rechtsstaats, "dass Abschiebungen nicht zur Gefahr für die Beteiligten werden." Seehofer weiter: "Die Sicherheitslage vor Ort ändert sich derzeit so rasant, dass wir dieser Verantwortung weder für die Rückzuführenden, noch für die Begleitkräfte und die Flugzeugbesatzung gerecht werden können."

Seit der Mannheimer Messerattacke Ende Mai 2024, bei der ein aus Afghanistan stammender Mann einen Polizisten so schwer verletzte, dass dieser später im Krankenhaus verstarb, wird intensiv über die Möglichkeit diskutiert, Straftäter nach Afghanistan abzuschieben. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am 6.6.2024 in einer Regierungserklärung, in Fällen wie der Messerattacke von Mannheim "wiegt das Sicherheitsinteresse Deutschlands schwerer als das Schutzinteresse des Täters." Deshalb arbeite das Bundesinnenministerium daran, Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan zu ermöglichen.

Was besagt die Genfer Flüchtlingskonvention?

Der von Boris Palmer in der Sendung angesprochene Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet zunächst die Ausweisung, Auslieferung oder Rückschiebung von Personen, wenn die Annahme besteht, dass ihnen im Zielland Folter, unmenschliche Behandlung bzw. schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Artikel 33 Absatz 2 erlaubt die Abschiebung schwerer Straftäter. Diese Ausnahme des sogenannten Refoulementverbots findet sich auch im deutschen Aufenthaltsgesetz (Paragraph 60, Absatz 8) wieder.

Maßgeblich für die Entscheidung, ob ein Straftäter tatsächlich in sein Heimatland zurückgebracht werden darf oder nicht, sind aber nicht nur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und Aufenthaltsgesetz (AufenthG), sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dieser Konvention kommt im deutschen Recht ein übergesetzlicher Rang zu, sie steht also im Zweifelsfall über dem Aufenthaltsgesetz. Unter Artikel 3 heißt es in der EMRK wörtlich: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden." Eine Ausnahme kennt die EMRK nicht.

Europäische Menschenrechtskonvention steht Abschiebungen entgegen

In der Konsequenz bedeutet das: Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, wenn ihm in seinem Heimatland z.B. Folter, Tod oder andere unmenschliche Behandlungen drohen. Das gelte sogar für Terroristen, erklärte der Völkerrechtler und Asyl-Experte Daniel Thym unlängst gegenüber dem ZDF. Bereits vor 27 Jahren wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Versuch der britischen Regierung zurück, einen mutmaßlichen Terroristen nach Indien abzuschieben. Der Schutz vor Folter und erniedrigender und unmenschlicher Behandlung nach Artikel 3 der EMRK sei "absolut, unabhängig vom Verhalten des Opfers und der Art der vom Kläger angeblich begangenen Straftat", urteilte der Gerichtshof. Etwas anderes gelte nur, wenn der Zielstaat belastbare diplomatische Zusicherungen vorlegt, keine Folter oder Todesstrafe anzuwenden. Im Fall des heutigen Taliban-Regimes in Afghanistan ist eine solche Zusicherung unrealistisch.

Wie weit Artikel 3 der EMRK reicht, ist unter Juristen nicht unumstritten. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim urteilte 2023, dass auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat einer Abschiebung entgegenstehen können, wenn sie als Art der Folter im Sinne des Artikel 3 EMRK gewertet werden können. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte 2019 fest, dass Ernährung, Körperhygiene und eine Unterkunft im Zielstaat gewährleistet sein müssen. Andernfalls handele es sich um einen Zustand der Verelendung, der mit der Menschenwürde unvereinbar sei. Speziell in Afghanistan ist die humanitäre Lage größtenteils noch immer kritisch.

Abschiebung ist immer Einzelfallentscheidung

Grundsätzlich müssen die Gerichte immer im Einzelfall über die Zulässigkeit einer Abschiebung entscheiden, indem individuell geprüft wird, welche Situation die jeweilige Person im Zielland erwartet. Drohen politische Verfolgung, Folter oder Tod? Widerspricht die humanitäre Infrastruktur vor Ort der Menschenwürde?

Zwar verhängte die Bundesregierung im August 2021 einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan, doch umgekehrt wäre es nicht möglich, alle afghanischen Straftäter nach einem Ende des Abschiebestopps pauschal in ihr Heimatland abzuschieben. Entscheidend ist immer der Einzelfall.

Schon im Dezember 2023 hatte die Innenministerkonferenz das Bundesministerium des Inneren gebeten, zu prüfen, auf welchem Weg Abschiebungen verurteilter schwerer Straftäter und Gefährder in ihre Herkunftsstaaten, wie z.B. Afghanistan, durchgeführt werden können. Das Ergebnis soll bei der nächsten Innenministerkonferenz am 19. Juni 2024 vorgestellt werden. Sollte man hier zu dem Befund kommen, dass in bestimmten Regionen Afghanistans den Abgeschobenen keine der oben aufgeführten Gefahren drohen würde, könnte man rechtlich gesehen dorthin abschieben. Auch dann gilt aber: Die Gerichte entscheiden über den Einzelfall.

Neben der rechtlichen Hürde gibt es aber auch eine praktische: Für eine Abschiebung braucht es auch immer ein Land, das den Abgeschobenen aufnimmt. Dafür sind in aller Regel Abkommen mit den Zielländern erforderlich. Doch wie oben bereits beschrieben, herrscht in Afghanistan seit August 2021 das radikal-islamistische Taliban-Regime, das Deutschland – wie viele andere Staaten – nicht als Regierung anerkennt. Die deutsche Botschaft in Kabul ist seit dem 15. August 2021 geschlossen.

Faeser prüft Abschiebungen über Nachbarländer

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) prüft nun die Möglichkeit, Rückführungen über Nachbarländer Afghanistans zu organisieren. Dies könne "ein guter Weg" sein, und daran werde gearbeitet, sagte Faeser am 9.6.2024 gegenüber dem Deutschlandfunk. Es könne nicht sein, "dass Gefährder und Straftäter, wenn sie ihre Haft hier verbüßt haben und von ihnen immer noch Gefahr ausgeht, dass sie hierbleiben. Da gehen deutsche Interessen, Sicherheitsinteressen einfach vor", so die Innenministerin weiter. Konkreter führte sie ihre Pläne bislang aber nicht aus.

Fazit: Es stimmt, dass die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unter Artikel 33 die Abschiebung schwerer Straftäter ungeachtet der Situation im Zielland erlaubt. Diese Richtlinie wird auch im deutschen Aufenthaltsgesetz (AufenthG) umgesetzt. Bei der Entscheidung, ob eine Abschiebung zulässig ist, muss jedoch auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) berücksichtigt werden. Diese steht im Zweifelsfall über dem AufenthG und verbietet ausnahmslos, dass ein Mensch einer unmenschlichen Behandlung oder Folter unterworfen wird. Das bedeutet: Selbst ein Terrorist darf nicht in seine Heimat abgeschoben werden, wenn ihm dort Folter, Tod oder andere unmenschliche Behandlungen drohen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit bereits entsprechend geurteilt. Grundsätzlich müssen die Gerichte immer im Einzelfall prüfen, welche Situation die jeweilige Person im Zielland erwartet. Weil sich die Sicherheitslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 drastisch verschlechtert hat, verhängte die Bundesregierung damals einen generellen Abschiebestopp, der noch immer gilt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) prüft aktuell die Möglichkeit, Rückführungen über Nachbarländer Afghanistans zu organisieren.

Stand: 12.06.2024

Autor: Tim Berressem