Faktencheck zu "maischberger"
Sendung vom 19.11.2024
Faktencheck
Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.
Und das schauen wir uns an:
- Haben US-Geheimdienste davor gewarnt, die Reichweitenbegrenzung für US-Raketen in der Ukraine aufzuheben?
- Wie hat Selenskyj auf das Telefonat zwischen Scholz und Putin reagiert?
Haben US-Geheimdienste davor gewarnt, die Reichweitenbegrenzung für US-Raketen in der Ukraine aufzuheben?
Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht kritisierte die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, der Ukraine den Einsatz US-amerikanischer Raketen gegen Ziele weit hinter der russischen Grenze zu erlauben. Wagenknecht sagte in diesem Zusammenhang, dass die US-Geheimdienste noch vor wenigen Monaten vor einer solchen Entscheidung gewarnt hätten.
Wagenknecht: "Die US-Geheimdienste haben im Sommer gewarnt. Deswegen hatte Biden ja auch zunächst diese Entscheidung zurückgehalten. Die haben gesagt, wenn man die Reichweitenbeschränkungen aufhebt, dann ist ihre Einschätzung, dass Russland tatsächlich dazu übergeht, Militärstützpunkte der NATO auch auf NATO-Gebiet anzugreifen."
Stimmt das? Haben US-Geheimdienste davor gewarnt, die Reichweitenbegrenzung für US-Raketen in der Ukraine aufzuheben?
Tatsächlich berichtete die "New York Times" am 26.9.2024 erstmals über entsprechende Einschätzungen der US-amerikanischen Geheimdienste zum Einsatz westlicher Raketen gegen russische Ziele. Wörtlich heißt es in dem Bericht:
Auf Deutsch:
Die von den Geheimdiensten befürchteten Szenarien reichen dem Bericht nach von "verstärkten Brandstiftungen und Sabotageakten gegen Einrichtungen in Europa bis hin zu potenziell tödlichen Angriffen auf Militärstützpunkte der USA und Europas".
Derselben nachrichtendienstliche Einschätzung zufolge würde der Einsatz westlicher Waffensysteme gegen russisches Territorium eher geringe Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges haben, "da die Ukrainer derzeit nur über eine begrenzte Anzahl dieser Waffen verfügen und unklar ist, wie viele weitere, wenn überhaupt, die westlichen Verbündeten bereitstellen könnten". Zudem sei davon auszugehen, dass die Russen nach den ersten Angriffen ihre Munitionsdepots, Kommandoposten, Kampfhubschrauber und andere wichtige Funktionen auf dem Schlachtfeld außerhalb der Reichweite der Raketen verlegen würden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich wiederholt um eine Erlaubnis zum Einsatz westlicher Waffen gegen strategische Einrichtungen auf russischem Staatsgebiet bemüht. So auch bei seinem Besuch in Washington Ende September 2024. Damals verweigerte Joe Biden die Genehmigung noch und blieb damit bei seiner Linie, die er seit Kriegsbeginn vertrat. Knapp anderthalb Monate später dann die Kehrtwende: Übereinstimmenden Medienberichten vom 17.9.2024 zufolge erteilte der scheidende US-Präsident die Erlaubnis, dass das ukrainische Militär amerikanische Raketen vom Typ ATACMS mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern auch für Angriffe auf russischem Boden verwenden darf. Der Einsatz dieser Raketen soll den Berichten nach vor allem bei der Abwehr der Gegenoffensive russischer und möglicherweise nordkoreanischer Truppen in der Region Kursk im Südwesten Russlands helfen. Die ukrainische Armee war im August in Kursk einmarschiert und brachte dort mehrere Hundert Quadratkilometer unter ihre Kontrolle.
Einzelheiten aus der Vereinbarung zwischen den USA und der Ukraine sind jedoch nicht bekannt. So ist unklar, ob es trotz der grundsätzlichen Freigabe weiterhin Einschränkungen bei der Verwendung der ATACMS gibt. Das US-Nachrichtenportal Axios etwa berichtete unter Berufung auf informierte Kreise über eine örtliche Beschränkung des Raketeneinsatzes auf die Region Kursk. Von offizieller Seite ist dies bislang jedoch nicht bestätigt.
Fazit: Sahra Wagenknecht kritisierte die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, der Ukraine den Einsatz US-amerikanischer Raketen gegen Ziele weit hinter der russischen Grenze zu erlauben. In diesem Zusammenhang sagte die BSW-Vorsitzende, dass US-Geheimdienste noch vor wenigen Monaten vor einer solchen Entscheidung gewarnt hätten. Tatsächlich berichtete die "New York Times" am 26.9.2024 erstmals über entsprechende Einschätzungen der US-amerikanischen Geheimdienste zum Einsatz westlicher Raketen gegen russische Ziele. Demnach sei vor Reaktionen Moskaus gewarnt worden, die von Brandstiftungen und Sabotageakten bis hin zu potentiell tödlichen Angriffen auf Militärstützpunkte der USA und Europas reichen könnten. Nachdem Biden sich lange Zeit gegen einen Einsatz US-amerikanischer Raketen auf russischem Staatsgebiet ausgesprochen hatte, kam er der ukrainischen Forderung nun schließlich nach. Einzelheiten aus der Vereinbarung sind jedoch nicht bekannt.
Wie hat Selenskyj auf das Telefonat zwischen Scholz und Putin reagiert?
Sahra Wagenknecht äußerte sich in der Sendung zum ersten Telefonat seit zwei Jahren zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. In diesem Zusammenhang sagte sie, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe das Telefonat kritisiert, weil es den Weg zu Friedensverhandlungen geöffnet habe. Katrin Göring-Eckardt (B’90/Grüne) betonte, Selenskyj habe das nicht gesagt.
Wagenknecht: "Dass dieser Krieg so entsetzlich ist, die Menschen derart leiden, dass jeden Tag Hunderte, vielleicht Tausende, auch junge Männer an der Front sterben – das ist doch ein Grund mehr, dass man alles dafür tun muss, jetzt einen Waffenstillstand zu erreichen. Nur mit einem Waffenstillstand lässt sich dieses Leid beenden. Mit Waffenlieferungen nicht."
Maischberger: "Scholz hat mit Putin telefoniert. Haben Sie das Gefühl der ist empfänglich für die Botschaften von Frieden?"
Wagenknecht: "Zumindest haben Sie ja vorhin selbst Herrn Selenskyj eingespielt. Selenskyj hat das Telefonat mit der Begründung kritisiert, dass Putin dadurch den Weg für Verhandlungen quasi geöffnet bekommt."
Göring-Eckardt: "Nein."
Maischberger: "Das hat er nicht gesagt."
Göring-Eckardt: "Das hat er nicht gesagt. Das ist eine Unterstellung."
Wagenknecht: "Doch, er hat das gesagt."
Hintergrund: Wie hat Selenskyj auf das Telefonat zwischen Scholz und Putin reagiert?
In seiner täglichen Videobotschaft vom 15.11.2024 äußerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Telefonat zwischen dem deutschen und dem russischen Regierungschef. Wörtlich sagte Selenskyj:
Deutliche Kritik von Selenskyj: Scholz öffne "Büchse der Pandora"
Selenskyjs Kritik an Bundeskanzler Scholz ist deutlich. Doch er spricht sich nicht – wie Sahra Wagenknecht es in der Sendung nahelegte – kategorisch gegen Friedensverhandlungen aus. Vielmehr spricht er eine Warnung aus, dass Verhandlungen mit dem Kreml zum jetzigen Zeitpunkt lediglich zu einer scheinbaren Lösung des Konflikts führen würden – nicht zu einem "echten Frieden".
Dabei stellt er einen Rückbezug zu den sogenannten Minsk-Abkommen her. Mit jenen Verträgen sollten im Jahr 2015 die kriegerischen Handlungen in der Ostukraine beendet werden. Ausgelöst worden war dieser Konflikt hauptsächlich durch Russlands völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Schwarzmeerhalbinsel Krim im März 2014, woraufhin die pro-russischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk kurze Zeit später ihre Unabhängigkeit als selbsternannte Volksrepubliken erklärten. Kämpfe zwischen den aus Russland unterstützten Separatisten und den ukrainischen Regierungstruppen waren die Folge.
Minsker Vereinbarungen brachten keinen Frieden
Das Ziel, die Kampfhandlungen zu beenden, wurde bereits im September 2014 im sogenannten Protokoll von Minsk (Minsk I) festgehalten. Der darin vereinbarte Waffenstillstand hielt allerdings nur rund drei Wochen, ehe die Kämpfe weitergingen. Das Minsker Abkommen (Minsk II) ergänzte und konkretisierte die erste Vereinbarung. Vorgesehen war erneut ein sofortiger Waffenstillstand, der jedoch auch diesmal durch beide Seiten wiederholt gebrochen wurde. Auch wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach seiner Wahl 2019 versuchte, die Verhandlungen durch Zugeständnisse an Russland wiederaufzunehmen, konnte der Konflikt nicht beigelegt werden.
Am 21. Februar 2022 brach Wladimir Putin das Abkommen dann endgültig, indem er die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten verkündete und Truppen in die von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebiete entsandte. Die Umsetzung von Minsk II erklärte er bei einem Treffen des nationalen Sicherheitsrats in Moskau für aussichtslos. Drei Tage später, am 24. Februar 2022, begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine.
Die Minsker Vereinbarungen waren das Ergebnis diplomatischer Anstrengungen seitens des damaligen französischen Präsidenten François Hollande und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gemeinsam versuchten, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln.
In seiner Videobotschaft warnte Selenskyj vor der Annahme, den Krieg in der Ukraine durch ein ähnlich brüchiges Abkommen wie Minsk I und Minsk II beenden zu können. Auch das ukrainische Außenministerium betonte im Vorfeld des Telefonats, nötig im Umgang mit Putin seien "konkrete und starke Aktionen, die ihn zum Frieden zwingen, und nicht Überzeugungsarbeit und 'Appeasement-Versuche', die er als Zeichen der Schwäche sieht und zu seinem Vorteil nutzt". Als Appeasement wird eine Politik der Besänftigung demokratischer Staaten gegenüber aggressiven, autoritär regierten Nationen bezeichnet. Der Ausdruck geht auf die gescheiterte Politik des britischen Regierungschefs Neville Chamberlain gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland vor dem Zeiten Weltkrieg zurück.
Putin nicht bereit für Zugeständnisse
Bundeskanzler Scholz hatte Putin in dem Telefonat nach eigenen Angaben dazu aufgerufen, den "Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden und seine Truppen zurückzuziehen". Russland müsse Verhandlungen mit der Ukraine über einen "gerechten und dauerhaften" Frieden führen, schrieb der Kanzler im Onlinedienst X.
Putin jedoch signalisierte keinerlei Bereitschaft für Zugeständnisse. Der Kreml erklärte, ein Abkommen könne es nur geben, wenn Kiew die "neuen territorialen Realitäten" in der Ukraine anerkenne. Seit der Annexion der Krim und dem seit 2022 andauernden Angriffskrieg begreift Russland rund 20 Prozent der Ukraine als sein eigenes Staatsgebiet. International wird das jedoch kaum anerkannt.
Scholz und Putin hatten zuletzt am 2. Dezember 2022, rund 9 Monate nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, miteinander telefoniert.
Fazit: Sahra Wagenknecht sagte in der Sendung, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe Bundeskanzler Scholz für sein Telefonat mit Putin kritisiert, weil dieses Gespräch den Weg zu Friedensverhandlungen geöffnet habe. Diese Aussage muss differenziert betrachtet werden. Richtig ist, dass Selenskyj den Bundeskanzler deutlich kritisierte. Er äußerte dabei aber vor allem die Befürchtung, dass man in weiteren Gesprächen mit Putin keinen "echten Frieden" schaffen werde, sondern zu einem brüchigen Friedensvertrag nach Vorbild der Minsker Vereinbarungen kommen könnte. In dem Telefonat mit Putin forderte Scholz einen "gerechten und dauerhaften" Frieden. Der russische Präsident zeigt sich jedoch nach wie vor nicht bereit für Zugeständnisse.
Stand: 21.11.2024
Autor: Tim Berressem