Die 255 Tage von Chris Dercon – Chronologie eines Desasters
Das Ende:
Am Donnerstag, 12.April 2018, hat Chris Dercon einen Termin, der sein Leben verändern wird. Am Mittwoch war er in einem überraschenden Anruf gebeten worden, am nächsten Tag um 10 Uhr zu einem Gespräch in die Berliner Kulturverwaltung zu kommen. Von seinem Haus in Berlin-Zehlendorf fährt er mit der U-Bahn zum Sitz der Kulturverwaltung in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte, etwa 15 Minuten Fußweg entfernt von seinem Arbeitsplatz, der Berliner Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz. Er leitet sie seit sieben Monaten als Intendant. Chris Dercon kommt alleine in die Kulturverwaltung. Hätte er gewusst, was ihn dort erwartete, hätte er wahrscheinlich einen Anwalt mitgenommen.
Erst drei Tage zuvor, am Montag, war er schon einmal in den Büros in der Brunnenstraße gewesen, um vor den zuständigen Referenten über die wirtschaftliche und künstlerische Lage des Theaters zu berichten. Sie ist katastrophal. Die Auslastung der Theatervorstellungen auf der großen Bühne liegt bei unter 50 Prozent. Viele Vorstellungen in dem Haus mit 824 Plätzen, dem größten Theater Berlins, haben weniger als 200 Zuschauer. Das Budget reicht kaum noch für größere Repertoireproduktionen. Prominente Künstler sagen vereinbarte Auftritte ab, renommierte Regisseure beenden die Zusammenarbeit mit dem Theater schon vor ihrer ersten Premiere. Die Volksbühne ist in der Krise.
Chris Dercon sitzt in der Brunnenstraße im Büro des Staatssekretärs. Ihm werden zwei Briefe übergeben: eine Kündigung, gültig ab September, und die sofortige Freistellung von seinen Aufgaben als Intendant. Nach nur sieben Monaten im Amt will ihn sein Dienstherr, das Land Berlin vertreten durch die Kulturverwaltung, nur noch so schnell wie möglich loswerden.
Nach dem Termin in der Brunnenstraße geht Chris Dercon in sein Intendanten-Büro im dritten Stock der Volksbühne, ein letztes Mal. Er informiert seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock. Sie beschließen, die Kündigung im Haus nicht zu kommunizieren. Am Abend hat auf der großen Bühne die Inszenierung "What if Women Ruled the World" Premiere. Darauf wollen sich Dercon und Piekenbrock jetzt konzentrieren. Dercon versucht, den Schock der Entlassung zu überspielen. Er versucht, Peter Raue, seinen Anwalt, zu erreichen. Raue ist im Urlaub in Südamerika.
Dercon raucht im Hof, wie immer. Er setzt sich zum Mittagessen in die Kantine. Eigentlich hätte er an diesem Abend zur Premiere eine kleine Ansprache halten sollen. Er sieht die Premiere nicht mehr. Um 16 Uhr verlässt er die Volksbühne, ohne sich von seinen Mitarbeitern zu verabschieden. Auf Anrufe und SMS reagiert er nicht mehr. Dies ist die Geschichte, wie es so weit kam:
19. September 2014: Das erste Treffen
Es begann in der "Deutsche Bank KunstHalle", Berlin, Unter den Linden. Am 19. September 2014 eröffnete Chris Dercon, damals Leiter der Tate Modern, eine Ausstellung zu afrikanischer Gegenwartskunst. Im Publikum war auch Tim Renner, Berlins Kulturstaatssekretär und neben dem Regierenden Bürgermeister und Kultursenator der mächtigste Kulturpolitiker Berlins.
"Es geht um die Zukunft der Volksbühne"
Einige Tage später schickte Tim Renner eine SMS an Chris Dercon und bat ihn um ein Gespräch. Der Rückruf kam während einer Sitzung der SPD-Fraktion im dritten Stock des Abgeordnetenhauses. Er verließ den Raum und telefonierte mit Dercon.
24. Oktober 2014: Nachfolge für Castorf
Chris Dercon kam wieder nach Berlin, um eine Diskussion mit afrikanischen Künstlern zu moderieren. Die Diskussion fand am Abend statt. Am Nachmittag des gleichen Tages, dem 24. Oktober 2014, erschien er um 12.30 Uhr zu einem Arbeitstreffen in der Berliner Kulturverwaltung in der Brunnenstraße in Mitte. Thema des Gesprächs laut internen Akten der Kulturverwaltung: "Auslotung von Möglichkeiten/Chancen hinsichtlich Nachfolgeregelung Castorf”. Dercon erinnert sich, dass er bei diesem Treffen gefragt wurde, ob "er sich vorstellen könnte, nach Berlin zu ziehen."
Nach einer internen Chronik, die Marietta Piekenbrock für Chris Dercon verfasst hat, war es Matthias Lilienthal, der Dercon vorgeschlagen hatte, Tempelhof als neue Spielstätte aufzubauen.
Aber Dercon war noch unentschlossen. Parallel verhandelte er auch noch über die Leitung des Museums Basel.
Eine SMS, die ein ganzes Leben verändert
Wenige Tage später bekam Marietta Piekenbrock eine SMS von Chris Dercon. Sie war zu Hause in Essen und hatte gerade beschlossen, nach zehn anstrengenden Jahren bei der Ruhrtriennale beruflich eine Pause zu machen. Ihre Mutter war krank, sie bereitete einen Umzug vor.
November 2014 - Januar 2015: Die Idee der "Neuen Volksbühnen" entsteht
Von November 2014 bis Januar 2015 entwickelten Dercon und Piekenbrock erste Konzepte für ihre mögliche Intendanz an der Volksbühne. In Mails zwischen ihnen und Tim Renner wird schon der neue Name des Theaters verwendet: "Neue Volksbühnen". Ein Konzept, das einen entscheidenden Anteil am Untergang Dercons haben wird.
Zur Vision der Neuen Volksbühnen gehörte es, zwei Hangars am stillgelegten Flughafen Berlin Tempelhof zu bespielen. Im Zentrum: Die riesige Abfertigungshalle des Flughafens als Eingang zu Hangar 5 und 6, ähnlich des Eingangs der Tate Modern. "Die Idee war immer die Expansion der Volksbühne, nie die Beschränkung auf die alte Volksbühne", sagt Tim Renner. "Es entsteht ein aussagekräftiges Identitätszeichen, mit dem sich die Stadt Berlin als Standort für Kunst und international neu positioniert", heißt es in einem internen Konzeptpapier. Internationale Künstler sollten Werke zwischen Bildender Kunst, Theater, Installation, Medienkunst und Tanz produzieren und aufführen. Geplant wurde in großen Dimensionen: Am 29. November 2014 schreibt Dercon in einer Mail, dass jährlich 250 000 Besucher nach Tempelhof kommen könnten.
Obwohl sich Chris Dercon noch nicht für Berlin entschieden hatte, entwickelten er und Tim Renner in den Tagen bis Jahresende Aktivitäten, die eine Intendanz Dercons an den Neuen Volksbühnen vorbereiteten.
27. Dezember 2014: Die Besichtigung von Tempelhof
Im Dezember 2014 konnte Chris Dercon zum ersten Mal den Ort besichtigen, der zum Zentrum seiner Vision der Neuen Volksbühnen werden sollte: den Flughafen Tempelhof. Die Tempelhof GmbH organisierte eine Ortsbegehung für ihn und einen erfahrenen Theater-Profi, der an die Zukunft von Tempelhof als Kunstort glaubte: Matthias Lilienthal, der frühere Intendant des Berliner Theaters HAU und designierte Intendant der Kammerspiele München, die er im Sommer 2015 übernehmen sollte.
100 Jahre Volksbühne – ein Fest mit Signalwirkung
Drei Tage später, am 30.12.2014, feierte die Volksbühne ihren 100. Geburtstag mit einem großen Fest.
"Kunst als soziale Arbeit und City-Making"
Tim Renner und Michael Müller, nach dem Rücktritt seines Amtsvorgängers Klaus Wowereit seit Dezember 2014 der neue Regierende Bürgermeister und Kultursenator Berlins, hatten eine zusätzliche Agenda: Sie wollten mit Kultureinrichtungen auf dem Areal des Flughafens Tempelhof ein neues urbanes Zentrum für die Kreativwirtschaft etablieren. Müller kommt aus Tempelhof und hatte als langjähriger Senator für Stadtentwicklung gelernt, in langen Perspektiven zu denken. Mit der Expansion der Volksbühne in den noch nicht gentrifizierten Stadtteil sollte eine 20- bis 30-jährige Entwicklung des Standorts beginnen.
Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch war in den Planungen Dercons und seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock von Anfang an eine zentrale Figur. In handgeschriebenen Aufzeichnungen Dercons von Ende 2014 steht "RENE POLLESCH" in großen Buchstaben auf der Mitte der Seite. Als mögliches Motto des gesamten Projekts war an eine Zeile gedacht, die den Beginn des Titels einer Pollesch-Inszenierung zitiert: "Ich schau dir in die Augen." René Pollesch wusste nichts von diesen Plänen.
Dercon nahm das Angebot des Regierenden Bürgermeisters Müller an. Jetzt gab es kein Zurück mehr für ihn. Er musste versuchen, seine Vision der "Neuen Volksbühnen" zu realisieren.
Eine der delikatesten Kultur-Diskussionen
Das Konzept von Dercon und Piekenbrock bedeutete auch eine Neuausrichtung der Volksbühne von der Ensemble- zu einer Plattform-Struktur für wechselnde Künstler unterschiedlicher Genres. Marietta Piekenbrock berichtet, dass sie Tim Renner darauf hingewiesen habe, dass dies das Ende der klassischen Ensemble-Struktur bedeuten würde: "Ich habe Tim Renner explizit gefragt, ob wir den Ensemble-Betrieb behalten sollen, ob es ihm wichtig sei, und Tim Renner hat mir ganz klar gesagt, das stehe für ihn nicht im Vordergrund."
In einer Mail an die Kulturverwaltung skizzierte Piekenbrock die Transformation der Volksbühne vom "klassischen Repertoire-Betrieb" in eine "Projektgesellschaft". Ihr war klar, dass das explosiv war. In der Mail schreibt sie, der Plan "berührt eine der empfindlichsten, delikatesten Kultur-Diskussionen zur Zukunft der Stadttheater". Sie sollte recht behalten – und Dercon nicht zuletzt über diese Diskussion stürzen.
Diese Mail von Marietta Piekenbrock wurde nie beantwortet.
Ein Konzept für den Bürgermeister
Renner und Dercon mussten jetzt versuchen, Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller, einen Mann, der aus Tempelhof kommt, nicht nur von der Idee zu überzeugen, Dercon als neuen Intendanten der Volksbühne zu berufen, sondern auch von der Expansion der "Dachmarke" Volksbühne. Für den 11. Februar 2015 wurde ein Treffen mit Müller, Dercon, Renner und einem Abteilungsleiter der Kulturverwaltung angesetzt. Dercons Team machte sich an die Arbeit. Sie mussten ein Finanzkonzept entwickeln, das den Regierenden Bürgermeister von ihren Plänen überzeugen sollte. Am 27. Januar 2015 schickte Marietta Piekenbrock diesen vorläufigen Finanzplan an die Kulturverwaltung.
Fatale Finanzplanung
Ein zentrales Problem bei der geplanten Entwicklung Tempelhofs als Teil der neuen Volksbühne war die Finanzierung. Dercon kalkulierte mit einem Budget von fünf Million Euro im Jahr. “Voraussetzungen: bauliche Ertüchtigung des Hangars als multidisziplinäre Ausstellungs- und Aufführungshalle inkl. Betriebskosten (Heizung, Strom, Klima)”, schrieb Piekenbrock am 27. Januar 2015 an die Kulturverwaltung. Das sind exakt die Konditionen, über die Matthias Lilienthal, der Mann, der Dercon bei seiner ersten Tempelhof-Begehung begleitet hatte, schon 2012 gegenüber einer Berliner Zeitung gesprochen hatte: "Wenn ich mir die Welt aussuchen könnte: Gebt mir einen Hangar in Tempelhof, baut mir das Ding aus und gebt mir fünf Millionen Euro im Jahr."
Besonders problematisch sollten dabei die erwarteten Einnahmen werden: In ihrer Finanzplanung rechneten Dercon und Piekenbrock für Tempelhof mit Sponsorengeldern in Höhe von 750 000 Euro. Für die Volksbühne wollten sie weitere 500 000 Euro von Sponsoren akquirieren – insgesamt also Zuschüsse in Höhe von 1,25 Millionen Euro. Laut einem Brief aus der Kulturverwaltung soll Dercon davon gesprochen haben, dass er möglicherweise von BMW oder Mercedes Sponsoring bekommen könnte. Durch Gastspiele, Einnahmen aus Koproduktionen und kommerzielle Vermietungen wollte Dercon in Tempelhof weitere 750 000 Euro einnehmen. Zahlen, die niemals Realität werden sollten.
Am Tag nach dieser Präsentation sitzt Dercon mit Tim Renner im Büro der Kulturverwaltung und analysiert die mit dem Regierenden Bürgermeister getroffene Vereinbarung. Der zuständige Abteilungsleiter in der Kulturverwaltung fasst die interne Diskussion am nächsten Tag in einer Mail an die Beteiligten zusammen. Trotz der freundlichen Formulierung enthält diese Mail eine kaum versteckte schlechte Nachricht für Dercon: "Es besteht der feste Wille, Tempelhof im Sinne Deines Konzepts zu nutzen, dies zu erreichen, werden wir uns bemühen. Aber es kann zum jetzigen Zeitpunkt (…) keine Zusage gegeben werden."
In einer internen Chronik der Ereignisse rund um Tempelhof schreibt Marietta Piekenbrock: "Matthias Lilienthal rät, die Finanzierung für Tempelhof während der Verhandlungen zu Intendanz als eine feste Position im Haushaltsplan der Stadt Berlin zu verankern." Mit der Absage Müllers stehen die Verhandlungen mit Dercon kurz vor dem Scheitern.
Dercon stand nun vor großen Problemen. Wie die Vision eines neuen großen Kulturzentrums unter der Dachmarke Volksbühne in Tempelhof zu realisieren sein würde, war unklar. Es gab keine realistische und verbindliche Finanzplanung des Landes Berlin. Das Projekt war von Anfang an von Sponsorengeldern in Millionenhöhe abhängig. Immerhin war die Akquise solcher Mittel an der Tate Modern eine der großen Fähigkeiten Dercons gewesen. Er diskutierte mit Renner die Möglichkeiten, Sponsoren zu gewinnen. Eine Idee war es, Tempelhof nicht erst mit Beginn der Intendanz im September 2017, sondern schon 2016 zu bespielen. Das Ziel formuliert eine Mail der Kulturverwaltung an Dercon: Damit sollte das Interesse potentieller Sponsoren "angeheizt" werden.
Eine "komplett unrealistische" Kalkulation
Ein Mitarbeiter der Kulturverwaltung hält in einem internen Vermerk für Staatssekretär Renner fest, dass in Dercons Kalkulation die Mietkosten für Tempelhof fehlen. Die Kosten des notwendigen Umbaus wurden weder von Dercon noch von der Kulturverwaltung kalkuliert. Weder im Etat der Kulturverwaltung noch an anderer Stelle im Landeshaushalt werden dafür in den kommenden Jahren Mittel eingestellt. Bei Dercons Präsentation vor dem Regierenden Bürgermeister Müller wurde die unklare Finanzierung der Tempelhof-Pläne deutlich. Selbst wenn die Stadt die Tempelhof-Bespielung mit Subventionen von drei Millionen Euro, zusätzlich zum bisherigen Volksbühnen-Etat, finanzieren würde, bliebe der Bedarf an Drittmitteln hoch. Die Vision war mutig. Daran, dass sie auch umgesetzt werden könnte, hatte Gabriele Gornowicz allerdings große Zweifel. Bis 2014 war die erfahrene Theater-Managerin die Geschäftsführerin der Volksbühne. Sie hält Dercons Kalkulation für "komplett unrealistisch". Sie sollte recht behalten.
Renners und Dercons nächster Schritt war der Versuch, René Pollesch, einen der wichtigsten Autoren und Regisseure an Castorfs Volksbühne, davon zu überzeugen, die Leitung der Schauspielsparte an der Volksbühne zu übernehmen. Ihr Ziel war klar: Pollesch als Schauspielchef würde Kontinuität und ein Anknüpfen an die Geschichte des Theaters signalisieren. Am 5. März 2015 hatte René Pollesch einen Termin im Büro der Kulturverwaltung.
Es sollte anders kommen. Am nächsten Tag schrieb Pollesch in einer Mail an Tim Renner, dass er das Angebot nicht annehmen könne.
In der folgenden Woche trafen sich Renner und Pollesch erneut, diesmal im Restaurant "Crackers" an der Friedrichstraße. Tim Renner sagte ihm bei dem Treffen, Dercon sei ein großer Fan und liebe Polleschs Arbeit. Renner bat Pollesch, Dercon zu treffen, bevor er endgültig absage. Am Ende stimmte Pollesch einem Treffen mit Dercon zu. Dercon und Pollesch verabredeten ein Treffen nach einer Vorstellung von Polleschs Inszenierung "Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte" in der Volksbühne.
Am nächsten Tag schrieb Pollesch einen Brief mit seiner endgültigen Absage an Tim Renner.
Die Notbremse ziehen?
Zu diesem Zeitpunkt, im März 2015, war klar, dass es ernsthafte Schwierigkeiten gab, das Konzept einer Neupositionierung und Expansion der Volksbühne zu realisieren. Der Kern und die Identität des Theaters waren die Regisseure und das einzigartige Ensemble. Das Team Dercon plante jedoch, das klassische Ensemble durch eine Projektgesellschaft zu ersetzen. Das Geld für die Bespielung Tempelhofs war nicht gesichert – die Finanzierung hing von Dercons Fähigkeiten als Fundraiser ab. Um die Öffentlichkeit für die neue Intendanz zu gewinnen und Kontinuität zu signalisieren, wäre das Engagement Polleschs wichtig gewesen. Das war gescheitert.
Wäre das der Zeitpunkt gewesen, das Konzept und die Chancen einer Intendanz Dercons zumindest zu überdenken?
Die Vorbereitungen der künftigen Intendanz gingen trotz der unübersehbaren Probleme weiter. Vier Tage nach Polleschs Absage schrieb der Regierende Bürgermeister Müller einen Brief an Chris Dercons Vorgesetzten bei der Tate in London, in dem er ihm den Plan der Berliner Landesregierung mitteilte, Chris Dercon zu engagieren.
Die Schlacht beginnt
Weil sie befürchteten, Dercons geplante Berufung könnte vorzeitig bekannt werden, arbeiteten die Kulturverwaltung, das Büro des Regierenden Bürgermeisters und Team Dercon mit Hochdruck an der Vorbereitung einer Pressekonferenz, bei der Michael Müller, Chris Dercon und Tim Renner ihre Pläne für die Zukunft der Volksbühne bekannt geben sollten.
Marietta Piekenbrock bereitete für Dercon eine Liste mit Antworten auf mögliche Fragen auf der Pressekonferenz vor. Die beiden wichtigsten Fragen, die Finanzierung von Tempelhof und die Zukunft des Schauspielprogramms, waren nicht gelöst. In den vorbereiteten "Fragen & Antworten" für Dercon wurden die Pläne für Tempelhof nicht erwähnt. Auch der Plan, den klassischen Repertoirebetrieb in eine Projektgesellschaft umzuwandeln, auf den sich Renner, Piekenbrock und Dercon verständigt hatten, findet sich nicht in Piekenbrocks Vorbereitungspapier der PK. Auf der Pressekonferenz betonte Dercon trotz der Projektgesellschafts-Pläne, die Volksbühne sollen ein Ensembletheater bleiben.
Piekenbrock schrieb weiter, Dercon solle sagen "mit René Pollesch sind wir im Gespräch", obwohl dieser definitiv abgesagt hatte. Auf diesen Widerspruch angesprochen, sagt Piekenbrock im April 2018: "Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wie definitiv die Absage von Pollesch war."
Fünf Tage vor der Pressekonferenz war im Tagesspiegel ein Interview mit Bert Neumann erschienen, der Bühnenbildner und neben Castorf prägende Künstler der Volksbühne. Mit Neumanns Interview-Satz "keiner von den Künstlern, die das Haus präsentieren, wird hier unter irgendeinem Kurator arbeiten, weder Pollesch, noch Castorf, noch die Schauspieler", waren die Konfliktlinien gesetzt. Sie sollten die gesamten zwei Jahre der Vorbereitungszeit des designierten Intendanten prägen.
Wenige Tage nach der Pressekonferenz schreibt Bert Neumann eine SMS an René Pollesch. Über dem Portal der Volksbühne hingen immer große Banner, sogenannte "Bauchbinden". In der Regel zeigten sie den Titel des am Abend gespielten Stücks.
Im September 2015 war, trotz einer Absichtserklärung Müllers, Dercons Vertrag immer noch nicht fertig verhandelt und unterschrieben. Es wäre zu diesem Zeitpunkt noch möglich gewesen, das Konzept angesichts der ungeklärten Finanzierung zu ändern. Dercon hätte die verbindliche Finanzierung des Umbaus und der Bespielung Tempelhofs zu seiner Vertragsbedingung machen können. Ihm standen noch alle Möglichkeiten offen.
Eine Personalversammlung wie ein "stalinistischer Schauprozess"
Eine der Stärken Dercons ist seine Fähigkeit, öffentlich zu sprechen und seine Zuhörer zu gewinnen. Dass der Geschäftsführende Direktor der Volksbühne, Thomas Walter, ihn gemeinsam mit Tim Renner zu einer Personalversammlung einlud, war eine große Chance für Dercon, die Mitarbeiter von seinen Plänen zu überzeugen.
Ein Mitarbeiter der Kulturverwaltung berichtet in einer internen Notiz seinen Vorgesetzten vom Verlauf der Personalversammlung: "Der Versuch Dercons, die Vorstellungen des neuen Volksbühnenteams den anwesenden Volksbühnemitarbeitern zu vermitteln, muss als nicht erfolgreich eingeschätzt werden. Dercon hat nur wenig Konkretes zu verkünden, verbarg sich hinter allgemeinen Floskeln… Die an die Belegschaft gerichteten lobenden Worte verpufften nahezu wirkungslos…"
Das bisherige Ensemble soll aufgelöst werden
Kurz nach Dercons Auftritt bei der Personalversammlung begannen die um die Zukunft ihres Theaters besorgten Mitarbeiter der Volksbühne, einen offenen Brief zu schreiben. Er sollte zu einer Misstrauenserklärung gegenüber Dercon werden. Dercon erfuhr von dem geplanten Brief und informierte sofort die Kulturverwaltung. Dercons Mitarbeiter bereiteten Gegenargumente vor.
Die Diskussion darüber, ob die Volksbühne unter Dercon ein Ensembletheater bleiben sollte, flammte durch den "offenen Brief" erneut auf. Dercons Pressesprecher schlug der Kulturverwaltung vor, wie sie auf diese Kritik antworten könnte: "Das Ensemble wird in seiner derzeitigen Struktur erhalten – als festes Künstler-Ensemble wird es ergänzt durch gastierende Künstler."
In der Kulturverwaltung wusste man, dass dieser Satz nicht mit dem übereinstimmte, was mit Dercon und Piekenbrock verabredet war. Marietta Piekenbrock war an diesem Punkt immer sehr klar gewesen. Eine Theaterreferentin in der Kulturverwaltung, antwortete in einer Mail auf diesen Formulierungsvorschlag: "Nicht richtig, sogar irreführend ist die Formulierung, das Ensemble bleibe in seiner Struktur erhalten. Dem ist mitnichten so, da das bisherige Ensemble aufgelöst wird."
Die durch den offenen Brief ausgelöste Debatte wurde in allen Medien zum Thema, die Atmosphäre war aufgeladen. Dercon war von der Wucht des Konflikts überrascht. Tim Renner schrieb an seine Mitarbeiter in der Kulturverwaltung, "Ich habe mit Dercon telefoniert. Die ganze Sache hat ihn merklich mitgenommen. Auch gesundheitlich… Ansonsten braucht der Mann dringend einen ‚Pep Talk‘. Entweder treffen wir ihn, wenn er in der Stadt ist… oder Konrad und ich fliegen nach London…" Am nächsten Tag wurde Michael Müller über den Stand der Dinge informiert.
Trotz der kritischen Atmosphäre, die in Berlin nach der Vollversammlung entstand, erschien Dercon als Teilnehmer eines Kulturdialogs im Roten Rathaus. Dercon schien die Stadt selbst für die Schwierigkeiten verantwortlich machen zu wollen, in denen er steckte. "Berlin ist in Europa die Hauptstadt der Selbstbeobachtung, das habe ich in den letzten Monaten zu spüren bekommen. Die Berliner Szene gibt es gerade nicht. Die hat sich irgendwo aufgehängt. Die Stadt dreht sich also vor allem um sich selbst… Das geht manchmal sehr weit, wie ich selbst erfahren habe."
Zu der Tempelhof-Bespielung im Jahr 2016 kam es nicht. Der verspätete Spielzeitbeginn in der Volksbühne verstärkte in der Öffentlichkeit den Eindruck einer überforderten Intendanz.
Auch aus den Plänen, Tempelhof zu einem erheblichen Teil mit Sponsorengeld zu finanzieren, wurde nichts. Statt mit den bisherigen 1,25 Millionen Euro plante Dercons Team 2017 nur noch mit einem Zehntel, 125 000 Euro, an Zuwendungen durch Sponsoren. Am 21. August 2017, zweieinhalb Jahre nachdem Dercon und Piekenbrock ihren ersten, ambitionierten Finanzplan vorgelegt hatten, schreibt eine Mitarbeiterin der Kulturverwaltung in einer Notiz für den Regierenden Bürgermeister zum "Wirtschaftsplan 2018 / 2019" der Volksbühne: "Die Bespielung von Tempelhof wird in 2018 und 2019 nicht abgebildet. Eine Finanzierung durch Drittmittel, wie Dercon im Kulturausschuss als Option genannt hat, ist auch nicht ablesbar, da nur 125.000 € Spenden / Sponsoring ausgewiesen." Dass die geplanten Einnahmen "ausgewiesen" sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie erzielt werden konnten.
Vor seinem Rücktritt als Kulturstaatsekretär im Dezember 2016 schreibt Renner einen Abschiedsbrief an Marietta Piekenbrock und Chris Dercon.
In der Zeit zwischen Januar 2015 und Dezember 2016, also in knapp zwei Jahren, geriet Dercons Vision der Volksbühne als Dachmarke für die Stadt in einen Abwärtsstrudel. Viele an der alten Volksbühne verlangten seinen Rücktritt. Wichtige Volksbühnen-Regisseure wie Pollesch und Fritsch weigerten sich, mit ihm zu arbeiten. Dercon würde nicht auf das Repertoire der alten Volksbühne zurückgreifen können. Die Stadt konnte die nötigen Mittel für Tempelhof nicht zur Verfügung stellen, und Dercons Pläne zur Geldbeschaffung gingen nicht auf. Die Krise, in der sich Dercon im Dezember 2016 befand, entstand in einer Zeit, als die kulturpolitische Führung der Stadt – Michael Müller und Tim Renner, die Männer also, die ihn nach Berlin geholt hatten – noch auf seiner Seite war. Nach der Landtagswahl gab es eine neue Landesregierung. Klaus Lederer (Die Linke) sollte wurde Kultursenator. Er hatte sich regelmäßig kritisch zu der Entscheidung geäußert, Chris Dercon zum Intendanten der Volksbühne zu machen.
Anfang April 2018, drei Jahre nachdem Dercon große Pläne für seine "Neuen Volksbühnen" hatte, sieben Monate nach Beginn seiner Intendanz, ist die Volksbühne in einer unübersehbaren Krise – künstlerisch, strukturell und finanziell. Eine der Ursachen: Fehlende Professionalität der Intendanz.
Die finanzielle Situation schränkt die Handlungsmöglichkeiten des Theaters massiv ein.
"Ich wurde im März 2018 als Geschäftsführer ab der kommenden Spielzeit berufen. Bei der Analyse der Zahlen wurde klar, dass die Produktions- und Vorstellungskosten viel zu hoch sind. Es wird nicht nachhaltig produziert. Die Produktionen sind zu teuer und laufen zu selten. Die Volksbühne kann bis Jahresende 2018 bei einer schwarzen Null landen, aber nur, wenn man zwei geplante Produktionen für die große Bühne auf 2019 verschiebt. Aber dann kann das Theater in 2018 nicht genug Vorstellungen spielen. Es gibt zu wenig repertoiretaugliche Produktionen. Der finanzielle Spielraum ist extrem begrenzt. Es ist kaum möglich, größere Neuproduktionen zu finanzieren, die nachhaltig Repertoire aufbauen. Im August finden fast nur Gastspiele des Festivals `Tanz im August´ statt. Ab Oktober bis Jahresende hätte das Theater monatlich 15 Schließtage." Klaus Dörr in einem Interview mit der SZ, erschienen am 16. April 2018
Der finanzielle Spielraum des Berliner Theaters mit den zweithöchsten Subventionen aller Sprechtheater der Stadt ist erschöpft. Der Versuch, in der Struktur eines auf Eigenproduktionen und Repertoirebetrieb ausgelegten Stadttheaters mit personalintensiven Gewerken im Wesentlichen einen teuren Gastspielbetrieb zu errichten, hat das Budget des Hauses überfordert. Die Produktionskosten sind exorbitant. Ein Beispiel: Allein die an vier Tagen gezeigte Produktion "A dancers day – 10.000 gestes" im September 2017 kostete laut Angaben von Programmdirektorin Piekenbrock 433 910,73 Euro. Einnahmen, laut der von Piekenbrock dem Rechercheteam zur Verfügung gestellten Budgetaufstellung: Keine. Um überhaupt eine Neuproduktion auf der großen Bühne zeigen zu können, ist als nächste Premiere der Spielzeit 2017/2018 eine Aufführung des Kinder- und Jugendtheaters P14 geplant. Das einst berühmteste Theater Europas ist beim Laienspiel angelangt.
Dercon hoffte, dass ihn der Regierende Bürgermeister Müller schützen würde. Aber in den 18 Monaten, die seitdem vergangen sind, vermied Michael Müller das Thema Volksbühne. Auf Anfrage des Recherche-Teams von NDR, rbb und SZ weigerte er sich, über das Thema zu sprechen. Das Team Dercon sagte, dass Michael Müller keine einzige Aufführung besucht hätte.
Das Gespräch, in dem Chris Dercon das sagte, war ein freundliches, entspanntes Gespräch. Es fand in seinem Intendanten Büro statt und dauerte fast zwei Stunden. Es war spät nachmittags am Mittwoch, dem 11. April.
Chris Dercon verabschiedete sich vom Rechercheteam mit einem Vorschlag: "Eigentlich sollten Sie Ihren Beitrag nach einem Stück von René Pollesch nennen. ‘Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte’. Das ist unsere gesamte Geschichte. Unser Problem war, dass wir die Miete in Tempelhof nicht bezahlen konnten. Matthias Lillienthal konnte sie nicht bezahlen. Herr Bürgermeister Michael Müller kann die Miete auch nicht zahlen."
Am nächsten Tag um 10 Uhr wurde Chris Dercon in die Kulturverwaltung an der Brunnenstraße bestellt.
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