So., 14.07.13 | 23:30 Uhr
"Ein deutscher Sommer"
Peter Henning rekonstruiert das Geiseldrama von Gladbeck als Roman
Es ist die wohl spektakulärste Geiselnahme der deutschen Kriminalgeschichte: Am frühen Morgen des 16. August 1988 überfallen zwei schwer bewaffnete Männer die Deutsche-Bank-Filiale in Gladbeck-Rentfort. Verfolgt von Polizeikräften und einem Tross von Reportern flüchten die beiden Kleinkriminellen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski mit zwei Geiseln und Rösners Freundin Marion L. nach Bremen.
Eine Nation im Bann zweier Krimineller
Dort kapern sie am 17. August einen Linienbus mit rund 30 weiteren Geiseln, geben mit gezückter Waffe Interviews und nehmen schließlich Kurs auf die Niederlande. Als bei einem Halt an einer Raststätte Marion L. von der Polizei überwältigt wird, tötet Degowski im Bus einen 14-Jährigen mit einem Kopfschuss. Nachdem die Polizei Rösners Freundin wieder freigelassen hat, setzen die beiden ihre Flucht fort. In den frühen Morgenstunden des 18. August tauschen sie den Bus gegen einen BMW und fahren mit zwei jungen Frauen als Geiseln weiter nach Köln. Die Meute der Medienvertreter und Kolonnen von Polizeikräften bleiben ihnen dicht auf den Fersen.
In der Breite Straße kommt es gegen Mittag zu einer makabren "Pressekonferenz": Rösner und Degowski sprechen in die Mikrofone der Journalisten und posieren für die Kameras. Ein Reporter steigt schließlich in das Fluchtauto, lotst die Geiselnehmer auf die A3 und darf an der Raststätte in Siegburg aussteigen. Erst jetzt beschließt die Polizei den Zugriff durch ein Sonderkommando, bei dem zwar die beiden Täter gefasst werden, eine der beiden Geiseln jedoch bei einem Schusswechsel stirbt.
Beginn einer "schrecklichen Faszination"
Diese 54 Stunden, die eine ganze Nation erschütterten und in Atem hielten, bilden die Rahmenhandlung von Peter Hennings neuem Roman "Ein deutscher Sommer".
Wie Millionen anderer Deutscher hatte auch er vor genau 25 Jahren das Geschehen live vor dem Fernseher verfolgt. Damals, so sagt er, habe seine "schreckliche Faszination" ihren Anfang genommen. Die Art und Weise, wie sich Journalisten mit "Verbrechern gemein machten", veränderten nachhaltig das "naive Vertrauen in die eigene Wahrnehmungsfähigkeit" des damals 29-Jährigen, der gerade selbst in der Zunft Fuß zu fassen suchte.
Lehrstück über Schuld und Korrumpierbarkeit
Die Bilder des Dramas ließen auch den Schriftsteller später nicht los. Über Jahre hinweg suchte er nach einer geeigneten literarischen Form, um über die Ereignisse zu schreiben. In seinem Roman "Ein deutscher Sommer", für den er in Zeitungsarchiven und im Internet intensiv recherchierte und mit Zeitzeugen wie dem ehemaligen SEK-Beamten Rainer Kesting sprach, hat er sie nun gefunden. Gekonnt verschränkt er auf 600 Seiten Fiktion und reales Geschehen zu einem Lehrstück über Schuld, Korrumpierbarkeit und den Sündenfall der Medien, aber auch über das Versagen der Polizei, deren Vorgehen, so Henning, "sich bei genauerer Betrachtung als eine Serie vermeidbarer Fehler und Pannen" erweist.
Dabei verzichtet er darauf, die hinlänglich bekannten Ereignisse noch einmal nachzuerzählen. Vielmehr stehen andere Protagonisten im Fokus, die auf unterschiedliche Weise in das Drama von Gladbeck involviert sind: Da ist zum Beispiel der junge RTL-Journalist Thomas Bertram, der über den Fall berichten soll, während sein neugeborener Sohn zu sterben droht. Oder die erfolgreiche Romanautorin Brigitte Fischer, die erst durch die Geiselnahme begreift, was ihren Mann, der als Kriegsreporter ums Leben kam, umtrieb. Und da ist der leitende SEK-Beamte Rolf Kirchner, der mit ansehen muss, wie die Einsatzleitung den Geiselbus davonfahren lässt, und in eine Sinnkrise gerät. "Mich hat interessiert, was macht die große Geschichte, die umspannende Geschichte, an der wir alle teilhaben, mit der kleinen privaten Geschichte", sagt Peter Henning. "Deswegen habe ich sieben Lebensläufe genommen und erfunden, also drei reale Figuren, vier habe ich dazu erfunden. Ich wollte zeigen, was mit diesen Figuren passiert, wenn sie in das Ereignis hineingezogen werden und wie sich das Leben in 54 Stunden vollkommen verändert."
Verlust der Unschuld
Aus den unterschiedlichen Blickwinkeln seiner Protagonisten, die mit dokumentarischen Elementen wie Pressemeldungen, Zeitungsartikel und den Original-O-Tönen von Rösner und Degowski kontrastiert werden, schildert "Ein deutscher Sommer" auf beklemmende Weise, wie die Medienmeute zunehmend jegliche Distanz verlor. "So geriet das Verbrechen zur makaberen Inszenierung, zur gefälschten Wirklichkeit", meint Peter Henning. Die deutsche Mediengesellschaft habe in jenen drei Tagen "ihre Unschuld verloren".
Ähnlich kritisch sieht auch Hans Leyendecker von der "Süddeutschen Zeitung" die Rolle der Medien: "Das Gladbecker Geiseldrama steht für ihr Versagen. Medien sind zu Akteuren geworden. Es hat Grenzüberschreitungen gegeben, die man sich so nicht hätte vorstellen können. Fotografen haben die Einsatzlage bestimmt. Ein Journalist ist in das Fluchauto eingestiegen und hat den Gangstern den Weg gezeigt. Das hat es vor und nach Gladbeck so nicht gegeben."
Zwar wurde nach dem Geiseldrama der Pressekodex in Teilen geändert. So sieht Richtlinie 11.2. inzwischen unter anderem vor, dass es Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens nicht geben darf. Dennoch ist Peter Henning skeptisch, ob die Zunft aus Gladbeck tatsächlich gelernt hat: "Wenn sich das Ereignis wiederholen würde, dann wäre noch ein viel höheres Journalistenaufkommen da, weil der Druck heute noch größer geworden ist. Tatsächlich wollte ich zeigen, das die Geschichte nie zu Ende ist, dass das morgen wieder passieren kann."
Buchtipp
Peter Henning: Ein deutscher Sommer.
Aufbau Verlag, 22. Juli 2013
ISBN 978-3-351-03542-6, Preis: 22,99 Euro
Stand: 10.11.2015 14:35 Uhr
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