So., 15.07.12 | 17:00 Uhr
Tausendsassa Alge
Normalerweise genießen Algen nicht gerade den besten Ruf: Sie gelten als eklig, sie wuchern in Pfützen, Tümpeln und können zur richtigen Plage werden, vor allem wenn sie die Strände mit einer modrigen Schicht überziehen. Der Badespaß ist dann verdorben. Die meisten Menschen empfinden Algen daher einfach nur als schleimig und störend.
Doch Algen stecken auch voller Überraschungen. Denn in Wahrheit sind sie echte Überlebenskünstler. Seit Jahrmilliarden leben sie auf unserem Planeten und haben es geschafft, sich an die extremsten Lebensbedingungen anzupassen. Dabei haben sie ganz erstaunliche Eigenschaften entwickelt. Durch Photosynthese etwa produzieren sie einen Großteil des Sauerstoffs auf der Erde. Und manche Wissenschaftler trauen ihnen noch ganz andere Leistungen zu.
Algen stecken voller Nährstoffe
Das hat Klaus Lüning schon lange erkannt. Auf der Insel Sylt betreibt der emeritierte Professor für Meeresbiologie eine Algenfarm und züchtet dort in großen Meerwassertanks vor allem Rot- und Braunalgen. Diese sogenannten Makroalgen haben ideale Eigenschaften, um als Nahrungsmittel eingesetzt zu werden. Denn das "Meeresgemüse" enthält wie jede andere Pflanze, die wir als Gemüse essen, viele wertvolle Inhaltsstoffe - wie Kalium, Calcium und Magnesium. Außerdem liefern Algen Vitamine und Ballaststoffe. Manche Arten übertreffen sogar Milch und Fleisch im Proteingehalt.
Meeresalgen haben also alles, was eine gute Nahrungspflanze braucht. Als Tierfutterzusatz kommen sie daher zum Beispiel in marinen Fischfarmen zum Einsatz. Positiver Nebeneffekt: Die Abfallprodukte aus der Fischzucht wie Nitrat und Phosphat dienen den Algen als Nahrung, so dass sich nachhaltige Stoffkreisläufe aufbauen lassen. Klaus Lüning züchtet seine Braunalgen sogar als Nahrung für den Menschen.
Algen als Delikatesse
Denn einige Algenarten eignen sich auch für die gehobene Küche. Das Sylter Restaurant Strönholt etwa setzt auf regionale Produkte und serviert seinen Gästen den Sylter Algensalat. Eine kulinarische Besonderheit, denn normalerweise fristen Algen in Deutschland noch ein Nischendasein. Bekannt sind sie lediglich als Zutat für Sushi. In Japan dagegen werden sie bereits im industriellen Stil für den Lebensmittelmarkt gezüchtet.
Dabei nehmen wir alle schon jetzt - ohne es zu wissen - unsere tägliche Algenportion zu uns. Denn in vielen Alltagsprodukten stecken Algen: zum Beispiel in Form von Carrageen, das als Bindemittel in Puddings, Eiscremes und Joghurts eingesetzt wird, oder als Stabilisator in Frischkäse, Margarine und Zahnpasta. Sogar Klebstoffe, Farbpigmente und Baumaterialien lassen sich aus Algen herstellen. Diese Vielseitigkeit interessiert die Grundlagenforschung. Am Institut für Getreideverarbeitung bei Potsdam züchtet und erforscht Professor Otto Pulz winzige Mikroalgen in sogenannten Photobioreaktoren.
Mikroalgen wachsen schneller als jede Landpflanze
In diesen geschlossenen Rohrsystemen aus Glas oder Kunststoff lassen sich die einzelligen Algen ideal vermehren, da sich die Zufuhr von Licht und Nährstoffen genau steuern lässt. Die Algen produzieren dabei bis zu zehnmal schneller Biomasse als jede Landpflanze und verbrauchen nicht nur den Klimakiller CO2, sondern erzeugen auch noch Sauerstoff.
Diese biologische Leistungsfähigkeit hat weltweit einen wahren Boom ausgelöst. Rund um den Globus erforschen Wissenschaftler die Lebensbedingungen der Algen und suchen nach den ertragreichsten Arten. Denn hier wartet ein ungehobener Schatz. Laut Schätzungen gibt es rund 300.000 Algenarten. Nur einige wenige von ihnen werden bisher kommerziell genutzt.
Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetikprodukte aus Algen
Erste große Zuchtanlagen gewinnen aus Mikroalgen bereits hochwertige Extrakte, die sich als Nahrungsergänzungsmittel gut vermarkten lassen. Die Pulver oder Pillen sollen zum Beispiel das Immun- und das Nervensystem stärken. Auch als Grundstoff für die Kosmetikindustrie werden Algen genutzt - zum Beispiel für Hautpflegecremes und Algen-Shampoos.
Doch die Visionen reichen noch sehr viel weiter. Manche Wissenschaftler trauen den Algen sogar zu, die Energieprobleme der Zukunft zu lösen. An der Universität Bielefeld forscht Professor Olaf Kruse an der Revolution im Tank: Bio-Treibstoff aus Algen. Denn bestimmte Mikroalgen besitzen von Natur aus einen sehr hohen Öl-Anteil. Daraus lässt sich Biodiesel herstellen, der in Autos und Flugzeugen zum Einsatz kommen soll. Im Labormaßstab hat sich gezeigt, dass die Ölausbeute von Algen dabei bis zu 20 Mal höher ist als die von Raps und das bei gleichzeitig geringerem Flächenverbrauch. Auf der Suche nach Ersatzstoffen für teures Öl und Kerosin haben die Luftfahrt- und die Erdölindustrie die neue Technologie bereits in ersten Pilotprojekten erprobt. Der weltweit erste Flug mit Algen-Biodiesel, durchgeführt vom Luft- und Raumfahrtkonzern EADS auf der Internationalen Luftfahrtausstellung ILA im Jahr 2010, hat bewiesen, welches Potenzial der Algen-Treibstoff besitzt.
Biodiesel aus Algen als Zukunftsvision
Doch im Moment ist Algen-Biodiesel noch viel zu teuer, da der Energieaufwand für die Gewinnung in Bioreaktoren noch zu hoch ist. Bevor Algen-Biodiesel gegenüber herkömmlichem Treibstoff konkurrenzfähig wird, dürften deshalb noch rund zehn Jahre vergehen. Die Bielefelder Forscher versuchen daher, die Effizienz der Algen mit genetischen Veränderungen noch zu verbessern. Außerdem arbeiten die Forscher an weiteren Energieträgern der Zukunft. Denn unter bestimmten Bedingungen können Algen auch Wasserstoff und Methangas produzieren. Sogar den Weltraum sollen die grünen Winzlinge erobern: als Nahrungsmittel- und Energielieferant für bemannte Weltraummissionen. Noch sind das Zukunftsvisionen. Aber schon jetzt ist klar: In Algen steckt mehr, als man denkt.
Autor: Rainer Terzo (HR)
Stand: 03.03.2014 14:46 Uhr