So., 24.06.12 | 17:00 Uhr
Andernach - die essbare Stadt
So ganz neu ist die Idee nicht: Gemüseanbau im öffentlichen Raum, Kohl und Kartoffeln statt Blumen. Nach Kriegsende waren Lebensmittel knapp und in vielen Städten sollten diese Maßnahmen die Not der Menschen lindern. Doch das ist lange her. Wer heute in der Stadt lebt, für den sind selbst angebauter Salat, würziges Basilikum oder aromatische Tomaten oft echter Luxus. Nicht so in einer idyllischen Stadt am Rhein: Andernach.
Pflücken erlaubt, statt Betreten verboten
Vor der alten Schlossmauer mitten im Stadtzentrum erntet Erika Kändler, was bei ihr zu Hause auf den Tisch kommt: Salat, Schnittlauch und Kohlrabi; alles frisch und in Bio-Qualität. Dabei gehört dieser Garten gar nicht ihr, sondern der Stadt - und in Andernach heißt das, er gehört allen Bürgern. "Das finde ich sagenhaft!", freut sich die Andernacherin. "Wo früher nur Efeu wuchs, da wächst jetzt was Essbares. Und vor allen Dingen: Wir dürfen das ernten. Da steht kein Schild 'Betreten der Rasenfläche verboten', sondern hier ist Pflücken erlaubt!"
Andernach, die essbare Stadt, ist Realität geworden. An diesem Konzept planen und arbeiten seit mehr als zwei Jahren Gartenbauingenieurin Heike Boomgaarden und Lutz Kosack, Geo-Ökologe der Stadt Andernach - und das im wahrsten Sinne mit wachsender Begeisterung.
Begonnen hat alles 2010
Im Gegensatz zu heute entsprachen die öffentlichen Grünflächen in Andernach bis zum Jahr 2010 dem gängigen Standard. Zum typischen Bild gehörten gepflegte Rasenflächen und die klassischen Wechselbeete, die mehrmals im Jahr neu bepflanzt werden. 2010 sollten den öffentlichen Grünflächen neue Funktionen zukommen. Sie sollten zu einem optischen und kulinarischen Genuss werden, zudem kostenlos für die Anwohner und bezahlbar für die Stadt. Mehr als 50.000 Euro waren nicht drin, um Andernach neu erblühen zu lassen. Ein ehrgeiziges Projekt. Heike Boomgaarden erinnert sich: "Da war die Grundidee, eine Stadt aufzuwerten, eine Stadt wieder zum Lebensmittelpunkt zu machen - das heißt, Lebensmittel in die Stadt zu bringen, Gemüsepflanzen, Obstbäume, Sträucher, die Obst tragen. Auch mit dem Gedanken, es schön zu machen, ästhetisch zu gestalten - und deswegen sind wir erst in die Ecken gegangen, die vielleicht nicht ganz so schön waren und die haben wir aufgewertet. Und als sie dann so richtig aufgeblüht sind, haben wir das ganze Projekt ausgeweitet und durch die ganze Stadt gezogen."
Um die Gärtnerarbeiten kümmerten sich von Beginn an nicht nur städtische Arbeiter, sondern auch Ein-Euro-Jobber, Langzeitarbeitslose und Freiwillige. Wer mitmacht, tut es gerne, denn die essbare Stadt kommt bei den Anwohnern gut an und macht Besucher neugierig. Als im ersten Jahr das Gemüse heranreifte, war das Zögern noch groß. Ist Pflücken wirklich erlaubt? Nach anfänglichem Zögern gehört mittlerweile diese "Selbstbedienung" auf den öffentlichen Flächen zum Leben der Bürger einfach dazu.
Rückkehr der Artenvielfalt
Artenvielfalt - Biodiversität - ist erklärtes Ziel in Andernach. Das gilt vor allem für die Nutzpflanzen. Die städtischen Grünflächen sollen mit einem Sortenreichtum überzeugen, der den allermeisten von uns heutzutage völlig fremd ist. So wurden 2010 vor dem Schloss rund 300 verschiedene Tomatensorten angebaut. Ein Jahr später waren es 101 verschiedene Bohnensorten. 2012 ist das Jahr der Zwiebelgewächse. So kehren in Andernach längst vergessene Sorten wieder zurück, zu deren Erhalt jeder etwas beitragen kann. "Wir fordern die Bürger ja auf, bitte bedient euch, nehmt euch die Früchte und nehmt euch die Samen. Nehmt die Samen und pflanzt sie in euren Garten und vervielfältigt damit diese seltenen Sorten", erklärt Lutz Kosack die Idee. "Das ist das, was wir als Agro-Biodiversität, als landwirtschaftliche Vielfalt, bezeichnen. Und wir versuchen das in die Stadt reinzubringen, damit in der Stadt selber das Samenmaterial zusammen kommt und auch wieder vervielfältigt und verbreitet wird."
Viele Gemüsesorten kennt die 80-jährige Erika Kändler noch aus ihrem Schrebergarten von früher. Doch mitten in Andernach wachsen auch für sie Überraschungen, beispielsweise buntstieliger Mangold. "Das war schöner als jede Rosenstaude. Also das genieße ich jetzt so richtig, dass man hier so vieles kennenlernen kann", freut sich die Andernacherin.
Gutes muss nicht teuer sein
Artenvielfalt und Blütenpracht ist nicht nur beim Gemüse gefragt. Auf dem einst trostlosen Gelände der ehemaligen Malzwerkfabrik nahe dem Rheinufer beispielsweise gedeiht eine Wildblumenwiese. Und auch Insektenhotels fehlen in Andernach nicht. Vielerorts hält die Natur wieder Einzug in die Stadt. Mit ihr kehren längst vergessene Wildpflanzen zurück wie die Kornblumen oder das zierliche leuchtend rote Adonisröschen. Das steht auf der roten Liste und wächst eigentlich gar nicht in der Stadt - mit Ausnahme von Andernach.
Außerdem sollten die vielen Blumenbeete pflegeleichter werden. Statt sie mehrfach im Jahr neu zu bepflanzen, wachsen jetzt heimische Stauden wie Katzenminze, Taglilie und essbarer Grünkohl. Auch vor dem Runden Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, stehen die mehrjährigen Stauden in voller Pracht. Für die Pflege dieser Beete braucht die Stadt nur noch ein Zehntel der früheren Kosten, 500 statt 5.000 Euro. Das meiste macht die Natur selbst.
Pflanzen für die Zukunft
Die Andernacher erfreuen sich an dem neuen Stadtbild und sie haben ein Auge auf "ihre" Gärten. Die anfängliche Sorge, dass die Gemüsebeete regelrecht geplündert werden, erwies sich als unbegründet. Sogar der anfänglich befürchtete Vandalismus blieb aus. Studien belegen, dass die Freiräume einer Stadt für die Wohnzufriedenheit und die Lebensqualität der Menschen ganz entscheidend sind.
Andernach ist attraktiver geworden und geht damit auch einen wichtigen Weg in Richtung Zukunft. "Für uns ist Stadtökologie ein ganz wesentliches Element für die Nachhaltigkeit in dieser Stadt, das wir wirklich jetzt schon in die Zukunft investieren", erklärt Lutz Kosack. "Denn, wenn wir wirklich einen Klimawandel bekommen und die demografische Entwicklung so bleibt, werden wir immer mehr ältere Leute haben. Und das Stadtklima wird schwieriger. Es wird wärmer, es wird drückender. Wenn wir jetzt konsequent pflanzen, Gehölze pflanzen, Bäume pflanzen, werden wir in Zukunft ein gesundes Stadtklima haben und damit auch die Lebenswertigkeit dieser Stadt aufwerten."
Übrigens: Gleich im ersten Jahr, 2010, gewann Andernach die Goldmedaille bei dem bundesweiten Wettbewerb "Entente Florale". Die Jury bewertet hierbei die gemeinschaftliche Initiative von Verwaltung, Politik, Wirtschaft sowie der Bürger, den städtischen Raum mit Grün und Blumen lebendig zu gestalten. In Andernach ist das zweifellos gelungen.
Autorin: Andrea Wengel (SWR)
Stand: 01.10.2014 16:25 Uhr