SENDETERMIN So., 12.02.12 | 17:00 Uhr | Das Erste

Die Kuhversteherin - unterwegs im Auftrag der Rinder

Hohe Nachfrage nach Rindfleisch

Temple Grandin zwischen Jungrindern
Eine Frau hat das Leben der US-amerikanischen Rinder verbessert. | Bild: SWR

Die meisten der sieben Milliarden Menschen auf der Erde wollen regelmäßig Fleisch essen. Das bedeutet, dass eine unvorstellbare Masse an Tieren groß gezogen, gemästet und täglich geschlachtet werden muss. Selten stehen dabei die Bedürfnisse der Tiere im Vordergrund. In den USA, wo es schon lange eine große Rindfleischindustrie gibt, hat ausgerechnet eine Autistin das Leben der Rinder zum Guten verändert.

Eine Autistin macht sich zur Anwältin der Rinder

Temple Grandin
Temple Grandin hat aufgrund ihres Autismus ein gutes Verständnis von Rinder. | Bild: SWR

Temple Grandin ist Autistin und hat eine besondere Begabung. Sie kann das Verhalten von Tieren besser als alle anderen Menschen verstehen und deuten. Seit 40 Jahren beschäftigt sie sich mit der Verbesserung von Anlagen in Viehzuchtbetrieben und Schlachthöfen. Inzwischen ist sie Professorin an der Colorado State University in Fort Collins. Und seitdem ihr Leben als Autistin 2010 verfilmt wurde, ist sie in den USA ein Wissenschafts-Star.

W wie Wissen hat die berühmte Tierforscherin in ihrer Heimat Fort Collins besucht. Dort zeigt sie uns in der Versuchsfarm der Universität, worauf man bei der Haltung von Rindern achten muss. "Bevor sich alle für meinen Autismus interessierten, habe ich mich bemüht, Anlagen zu verbessern. Als ich in den Siebzigern damit anfing, wurden Rinder schrecklich behandelt. Ständig Elektroschocks und lautes Geschrei. Die Menschen waren wirklich bösartig gegenüber dem Vieh," erzählt Temple Grandin.

Mit Unverständnis, sogar mit Hohn wurden ihre Ideen anfangs aufgenommen. Doch die "Rinderversteherin" ließ nicht locker. Heute ist sie in den USA als Architektin von Anlagen in Mastbetrieben und Schlachthöfen bekannt. Doch viel wichtiger als die Anlagen ist ihr das Verhalten der Rancher. "Man muss nicht immer Elektroschocks benutzen. Die Rancher müssen sicherstellen, dass ihre Leute die Rinder gut behandeln. Das Geschrei muss aufhören! Die Forschung ist eindeutig: Wenn Rinder angeschrien werden, sind sie gestresst."

Rinder nehmen ihre Umwelt anders wahr

Halbwilde Rinder laufen frei herum
Viele Rinder leben in den Staaten eine zeitlang halbwild. | Bild: SWR

Die Rinder in Colorado sind scheue Tiere. Der Mittelwesten ist berühmt für seine endlosen Weiten, auf dem einst wilde Büffel lebten. Heute grasen hier das ganze Jahr über Millionen von halbwilden Rindern. Von Zeit zu Zeit werden die Tiere eingefangen und in speziellen Käfigen fixiert, um sie tiermedizinisch behandeln zu können. Doch viele Tiere wollen nicht hineingehen. Sie sind störrisch, weil sie sich fürchten. Durch das Design ihrer Anlagen aber hat es Grandin geschafft, dass die Tiere ganz wie von selbst hineingehen.

Die Tiere registrieren nämlich Details, die wir nicht wahrnehmen - etwa glänzende Ketten, Plastikbänder am Gatter oder Plastiktüten. Dadurch lassen sie sich leicht verunsichern. Hier spielt Grandin ihre visuelle Begabung aus, die sie als Autistin auszeichnet. Kein noch so kleines Detail entgeht ihr. Alles, was die Tiere verunsichert, wird beseitigt. Dann gehen sie meist problemlos in ihre Gänge.

"Ich habe Checklisten gemacht, so wie für Piloten, von all den Dingen, auf die sie achten sollen. Die meisten Rancher brauchen sowas. Mein ganzes Denken funktioniert visuell. Ich denke in Bildern, nicht in Begriffen. Und so ist es für mich selbstverständlich auf Schatten zu achten. Als ich damit angefangen habe, hat niemand auf sowas geachtet. Die dachten, das ist doch verrückt. Wen interessiert es, was Rinder sehen?" Grandin hat zum Beispiel durchgesetzt, dass die Ganganlagen vor den Pressen und genauso vor den Schlachthofeingängen gebogen sind. Der Grund: "Rinder gehen gerne dahin zurück, wo sie hergekommen sind. Wenn man sie also leicht im Kreis gehen lässt, nutzt man das aus, dass sie lieber Kurven gehen."

Temple Grandin krempelt die Fleischindustrie um

Rinder warten auf dem Schlachthof
Viele Schlachthöfe in den Staaten wurden nach den Plänen von Temple Grandin umgebaut. | Bild: SWR

Mindestens jeder zweite Schlachthof in Nordamerika wurde bereits nach ihren Plänen umgebaut. Doch als wir die Anlagen mit unserem Filmteam drehen wollen, hagelt es Absagen. Bilder aus einem Schlachthof will man Fleischessern lieber nicht zumuten. Nur ein einziger Schlachthof ist nach langem Zögern und vielen Nachfragen bereit, uns seine Grandin-Außenanlagen zu zeigen.

Es ist ein Schlachthof von JBS-Swift in Greeley. JBS ist einer der größten Fleischkonzerne der Welt, der Schlachthof in Greeley einer der produktivsten in Nordamerika. 390 Tiere werden hier pro Stunde getötet, fast 1,5 Millionen pro Jahr. In der Tat wirken die Rinder nicht verängstigt. Es wird kaum gemuht, was für Rinder ein gutes Zeichen ist. Rinder muhen in der Regel nur, wenn sie ihre Artgenossen vor einer Gefahr warnen wollen. Ahnungslos laufen sie durch einen engen Gang ihrem Tod entgegen, der laut Temple Grandin ein "humaner" Tod ist. Für Grandin ist es ein 'humanes' Schlachten "wenn sie ganz ruhig den Laufgang hochgehen, genauso wie sie es auf der Ranch machen, dann ein Kopfschuss und sie sind tot."

Nicht Bio, sondern schonende Massenproduktion

Temple Grandin
Das Ziel von Temple Grandin: Massentierhaltung verbessern | Bild: SWR

In Gang kamen die Verbesserungen 1999, als McDonalds Grandin als Beraterin engagierte. Allen Lieferanten wurden ihre Forderungen nach humaner Haltung und Tötung zur Auflage gemacht. Burger King und Wendy's zogen bald nach. Mit der geballten Marktmacht der Hamburgerketten hat Grandin die amerikanische Fleischindustrie umgekrempelt. Grandin ist keine Verfechterin von Biofleisch, sie hat ihr Leben vielmehr der Verbesserung der Massenproduktion gewidmet. Hier spürt sie ihre Verantwortung: "Die Rinder, die Sie in der Versuchsstation und in dem Schlachthof gesehen haben, keines dieser Tiere würde existieren, wenn wir sie nicht gezüchtet hätten. Es gäbe sie einfach nicht. Daher schulden wir ihnen ein anständiges, ein lebenswertes Leben und am Ende einen schnellen Tod. Wir haben so viele dieser Tiere in die Welt gesetzt, also müssen wir sie auch human behandeln - das ist das Credo dieser außergewöhnlichen Frau.

Autor: André Rehse (SWR)

Stand: 30.10.2015 14:13 Uhr

Sendetermin

So., 12.02.12 | 17:00 Uhr
Das Erste

Externe Links