Sa., 11.11.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Annette Behnken: Nur ein Lichterfest?
Nur ein Lichterfest?
Ich habe ein kleines Problem mit ihm. In diesen Tagen ist er wieder unterwegs. An manchen Orten richtig so mit Pferd, mit historischem Kostüm und allem drumherum.
Heute, am 11. November, ist sein Feiertag: St. Martin.
Kinder und Familien und leuchtende Laternen. Der heilige Martin: Das Vorbild für Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit. Wer daraus ein weltanschaulich neutrales Lichterfest machen möchte, hat vielleicht nicht verstanden, dass Sankt Martin ein Fest für alle ist, egal ob religiös oder nicht, oder welchen Glaubens. Ein Fest für alle, die sich auf den großen, gemeinsamen menschlichen Nenner, auf Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit einigen können. Das ist nicht mein Problem mit ihm.
Die Geschichte ist ja bekannt: Der Soldat, der in einem besonders harten Winter auf seinem Pferd an einem frierenden Bettler vorbeikommt, Mitgefühl hat, mit seinem Schwert seinen Mantel durchschneidet und dem Bettler den halben Mantel gibt. Das ist nett von ihm. Und nichts gegen Nettsein. Aber von so einem Heiligen erwarte ich mehr. Warum steigt er nicht von seinem Roß ab? Geht auf Augenhöhe? Hört dem Bedürftigen zu - oder schenkt ihm sein Pferd?
Aber egal, trotzdem finde ich, dass die Umzüge, die St. Martins-Umzüge, leuchtende Demonstrationszüge sind für Kinder und Erwachsene, für Religiöse aller Glaubensrichtungen und Nichtreligiöse, in aller Nähe und aller Unterschiedlichkeit. Für viele verschiedene Blickwinkel auf das Leiden anderer, auf Unrecht. Für Mitmenschlichkeit. Und die geht nicht ohne Toleranz. Das beschäftigt mich derzeit sehr: Wie geht Toleranz?
Das Wort heißt übersetzt: erdulden, ertragen. Also: Ertragen, was mir fremd ist und auch, was ich falsch finde. Ein Beispiel: Vor ein paar Wochen habe ich es so erlebt. Ich habe mich mit einem jungen Mann unterhalten, ein gläubiger Christ, Migrant. Er kommt aus einer anderen Kultur, lebt jetzt in Deutschland. Seine Kultur und sein Glaube: sehr viel konservativer als ich. Mir viel zu konservativ. Ich finde da inhaltlich vieles wirklich falsch. Ihm geht’s umgekehrt genauso. Er hat erzählt, wie es ihm weh tut, dass seine Werte hier nicht gelebt werden. Wie fremd und falsch ihm auch meine Haltung erscheint.
Aber er sagte auch: Ich will dich verstehen. Deine Haltung wird wahrscheinlich nie meine sein, aber ich will sie verstehen und ich will sie aushalten können. Das hat mich beeindruckt. Und mit dieser Haltung hat er es auch mir leichter gemacht, seine Werte zu tolerieren.
Mitmenschlichkeit braucht Toleranz. Und: Mitmenschlichkeit markiert die Grenze von Toleranz. Die liegt da, wo andere Menschen abgewertet, diskriminiert oder respektlos behandelt werden. Eine Grenze, die ohne Wenn und Aber überschritten ist, wo jede Art von Terror, jede, nicht ganz klar verurteilt wird.
Wo Menschen Brandanschläge auf Synagogen und Gemeindezentren verüben. Sei es im November 1938 oder gerade erst im Oktober in Berlin. Überschritten, wo Politiker Parolen der SA und nationalsozialistische Rhetorik verwenden.
Ich fand es so stark von diesem jungen Mann, wie er mit sich gerungen hat. Er hat mir gezeigt, was Toleranz ist, und was Toleranz nicht ist. Toleranz ist nicht: Wir sollen alle einer Meinung sein, Friede, Freude, Laterne. Toleranz ist nicht das Verleugnen der eigenen Position.
Toleranz ist: Seinen Standpunkt haben, und den des anderen aushalten. So ist Toleranz. Anstrengend. Aber heilsam. Für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie, für uns. Und nicht zuletzt für die eigene Seele.