"Eine Frage, die sich jeder Mensch stellen muss."

Interview mit dem Autor Ferdinand von Schirach, dem Regisseur Lars Kraume, der ARD-Degeto-Geschäftsführerin und Redakteurin Christiane Strobel und den Produzenten Oliver Berben und Heike Vößler

Augenärztin Dr. Brandt (Anna Maria Mühe, Mitte) wird vom Ehtikrat unter der Vorsitzenden (Barbara Auer, vorne) und Dr. Keller (Ina Weisse, li.) befragt. Richard Gärtner (Matthias Habich, 2. v. re.) und sein Rechtsanwalt Biegler (Lars Eidinger, re.) hören zu.
Augenärztin Dr. Brandt wird vom Ehtikrat unter der Vorsitzenden und Dr. Keller befragt. Richard Gärtner und sein Rechtsanwalt Biegler hören zu. | Bild: ARD Degeto/Moovie GmbH / Julia Terjung

Die Verfilmung Ihres Buchs und Theaterstücks GOTT handelt von einem ethisch heiklen sowie politisch umstrittenen Thema: der geschäftsmäßigen Sterbehilfe bzw. dem assistierten Suizid. Was hat Sie dazu bewogen, sich dieser Thematik zu widmen? Können Sie die Wahl des Titels näher erläutern?

Ferdinand von Schirach: Es ist eine der Fragen, die sich jeder Mensch stellen muss. Wem gehört unser Leben? Wer darf darüber entscheiden, wie wir sterben wollen? Der Titel ergibt sich aus dem Stück: Sind Ärzte die Götter, die das entscheiden? Sind es Juristen? Sind es die Kirchen mit ihrem biblischen Gott? Oder ist der Mensch selbst Gott über seinen Tod?

Wie sieht derzeit die rechtliche Situation in Deutschland aus? Was besagen die Strafrechtsparagraphen 216 und 217? Und was bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020? 

Ferdinand von Schirach: Der Suizid selbst ist in unserem Recht keine Straftat. Ein Tötungsdelikt setzt immer den Tod eines anderen Menschen voraus. Bei einem Suizid oder Suizidversuch stellt sich also nur die Frage, ob sich ein Helfer strafbar machen kann. Wir unterscheiden zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe und einer Beihilfe zum Suizid. Früher gab es auch noch die passive Sterbehilfe, die nennen wir jetzt Behandlungsabbruch. Aktiv bedeutet, dass der Tod des Sterbewilligen aktiv herbeigeführt wird. Also: Der Arzt verabreicht die Todesspritze. Das ist als Tötung auf Verlangen verboten. Beim Behandlungsabbruch verzichtet der Arzt auf lebensverlängernde Maßnahmen. Das ist erlaubt, wenn ein entsprechender Patientenwille besteht. Indirekte Sterbehilfe liegt vor, wenn die lebensverkürzende Wirkung eines Medikaments in Kauf genommen wird. Auch das ist erlaubt, wenn der Patient es so wünscht. 

Und wie ist nun die Beihilfe zur Selbsttötung zu bewerten?

Ferdinand von Schirach: 2015 erließ der Gesetzgeber eine neue Vorschrift: § 217 Strafgesetzbuch. Nahestehende Personen durften nach diesem Gesetz Beihilfe zum Suizid leisten, nicht aber zum Beispiel Sterbehilfevereinigungen. Das widersprach unserer Verfassung. Der Bürger hat die rechtliche Freiheit, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte deshalb § 217 im Februar 2020 für nichtig.

Nach dem großen Erfolg von "Terror – Ihr Urteil" zeigen Sie ein weiteres Mal mit GOTT ein Format, bei dem die Zuschauer*innen am Ende aufgefordert sind, ein Votum abzugeben. Warum haben Sie sich dafür entschieden? Und was erhoffen Sie sich davon?

Christine Strobl: Mit der direkten Einbindung der Zuschauer*­ innen wollen wir zum einen eine innovative Diskussionsform im Fernsehen bieten. Zum anderen geht es uns um eine der wichtigsten Fragen des menschlichen Lebens: Wie selbstbestimmt ist unser Sterben? Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar dieses Jahres, das den assistierten Suizid nicht mehr unter Strafe stellt, scheint die rechtliche Sachlage klar. Aber sobald man beginnt, sich mit den verschiedenen im Film vorgetragenen Positionen zu beschäftigen, setzt bei jedem – so bin ich mir sicher – ein intensives Hin- und Hergerissensein ein. Genau dies wollen wir mit dem Film begleiten. Wir wollen die Zuschauer*innen anregen, sich der Frage nach dem eigenen Sterben offen und informiert zu stellen. Einen solch vielschichtigen Diskurs in nur 90 Minuten aufzuzeigen, ist eine Herausforderung und gleichzeitig eine Chance, die gesellschaftliche Debatte weiterzuführen – in persönlichen Gesprächen in der Familie, im Freundeskreis oder mit Kolleg*innen am Arbeitsplatz.

Viele Menschen durchleben in der aktuellen Corona-Krise eine schwierige Zeit. Gab es Bedenken, einen nicht ganz leichten Stoff wie GOTT in dieser Situation auszustrahlen?

Christine Strobl: Wann ist denn die Auseinandersetzung mit dem Tod einfach? In Wahrheit doch zu keinem Zeitpunkt. Nichtsdestotrotz sind oder werden wir alle früher oder später damit konfrontiert. Ein solches Thema aber gerade während einer weltweiten Pandemie zu verdrängen oder zu tabuisieren, wäre sicher nicht richtig. Ferdinand von Schirach hat es mit seiner einzigartigen Herangehensweise geschafft, den Zuschauer*innen einen Zugang zu bieten, sich differenziert mit dem Thema zu beschäftigen und sich eine Meinung zu bilden. Indem wir im Film die verschiedenen rechtlichen, ethisch-moralischen und religiösen Perspektiven zu Wort kommen lassen, ohne dabei ein klares Urteil über "richtig" oder "falsch" vorzugeben, überlassen wir die Entscheidung einzig und allein den Zuschauer*innen. Der Film macht die Auseinandersetzung mit einem kontrovers diskutierten Thema wie der Sterbehilfe erlebbar – und bietet damit die Möglichkeit, zu einer individuellen, substantiellen Haltung zu gelangen.

Nach "Terror – Ihr Urteil" bei dem ebenfalls am Ende das Publikum entscheiden konnte, wurde nun das neue Theaterstück von Ferdinand von Schirach, GOTT, als TV-Adaption für Das Erste verfilmt. Worin gleichen sich beide Produktionen? Und worin unterscheiden sie sich?

Oliver Berben und Heike Voßler: Bei "Terror – Ihr Urteil" hat sich das Publikum mit einer leicht zu verstehenden, aber von der Lebenswirklichkeit der Menschen etwas entfernteren Fragestellung konfrontiert gesehen. Bei GOTT holen wir die Fragestellung im Grunde zu den Zuschauer*innen nach Hause in die Wohnzimmer. Jeder Mensch hat in seinem Umfeld früher oder später eine ähnliche Situation in seinem Leben, wo er sich mit der Frage beschäftigen muss: Wie selbstbestimmt will ich leben und wie selbstbestimmt will ich auch sterben? Beide Produktionen behandeln grundsätzliche, moralische, ethische Fragen in einer hoch konzentrierten, inhaltlich anspruchsvollen Form. Der gesamte Film spielt wieder an einem Ort. Diesmal nicht im Gerichtssaal, sondern bei einer Sitzung des Ethikrates. Gemeinsam mit Lars Kraume und dem Szenenbildner Olaf Schiefner haben wir uns für eine Bibliothek als einzigen Spielort entschieden. Bei "Terror" hatte der Gerichtssaal eine kühle, distanzierte Anmutung. Dies wollten wir bei GOTT verändern. Warme Farben, Holz und ein großes Fenster mit Ausblick auf den Pariser Platz, wo das Leben tobt. Wir wollten einen Kontrast zum Thema Sterben setzen. Die Zuschauer*innen mit einer gewissen Eleganz und Wärme einladen, sich dem Thema auszusetzen. Wie schon bei "Terror – Ihr Urteil", ist es uns bei GOTT gelungen, einen exzellenten Cast für unser Projekt zu begeistern. Darüber sind wir sehr glücklich. Das Drehbuch von Ferdinand von Schirach ist eine große Herausforderung für einen Schauspieler. Barbara Auer, Lars Eidinger, Matthias Habich, Ulrich Matthes, Anna Maria Mühe, Christiane Paul, Götz Schubert und Ina Weisse gelingt es, eine Eindringlichkeit, eine Leichtigkeit und auch eine Emotionalität zu erzeugen, die die Zuschauer*innen immer stärker in ihren Bann zieht.

Der Film hat von dem Theaterstück die Einheit von Ort, Zeit und Handlung übernommen. Wie schafft man es, unter Verzicht auf fast alle filmischen Mittel, angesichts der heutigen Sehgewohnheiten, die Zuschauer*innen zu fesseln?

Lars Kraume: Ferdinand von Schirachs Theaterstücke "Terror – Ihr Urteil" und GOTT fesseln ihr Publikum auf ähnliche Weise. Zu Beginn steht ein großes moralisches Dilemma, über das sich die Zuschauer*innen am Ende ihre Meinung bilden sollen. Da sie abstimmen können, zählt ihre Meinung. Da der Sachverhalt aber immer komplex ist und vom Autor sehr umfassend beleuchtet wird, bleibt man aufmerksam. Nur so kann man sich sein Urteil am Schluss bilden. Diese Stücke, die Ferdinand von Schirach geschrieben hat, sind ein intellektuelles Vergnügen, weil sie uns die Gelegenheit geben, uns mit großen ethischen Fragen zu beschäftigen, die uns auch emotional fesseln. 

Die Form der direkten Zuschauer*innenansprache erinnert an das Konzept des "Epischen Theaters", das auf Bertolt Brecht zurückgeht. Dieses soll die aktiv mitdenkenden Zuschauer*innen bewegen, am Ende des Stücks die Welt zum Besseren zu verändern. Was soll die TV-Ausstrahlung von GOTT bewirken?

Oliver Berben und Heike Voßler: Dass die Menschen miteinander reden. Dass sie diskutieren, sich die Meinungen der anderen anhören, sie respektieren, auch wenn sie nicht zwangsläufig der eigenen entsprechen. Die Zuschauer*innen sollen herauskommen aus der Komfortzone, vom passiven zum aktiven Teilnehmer werden. Den festgefahrenen Gedanken neuen Raum geben und vielleicht zu neuen Überlegungen und Einsichten kommen. Und wieder ist es erstaunlich zu erleben, dass, wie bei "Terror – Ihr Urteil", unsere Meinung im Laufe des Films mit jedem neuen Zeugen bzw. Sachverständigen in Frage gestellt wird.

In "Terror – Ihr Urteil" findet die Aufarbeitung Ihres Grundthemas "Recht und Gerechtigkeit" in einem Gerichtssaal statt. Warum haben Sie bei GOTT einen Ethikrat gewählt?

  Ferdinand von Schirach: Weil es jetzt ein ethisches Thema ist. Wir haben durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht, die ich für ein Jahrhunderturteil halte, das Recht, über unseren Tod frei zu entscheiden. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob eine solche Entscheidung auch ethisch richtig ist. Diese Frage behandelt das Stück. 

Konnten Sie aus Ihren Erfahrungen von "Terror – Ihr Urteil" bei der Umsetzung von GOTT profitieren?

Lars Kraume: Ja. Als ich "Terror – Ihr Urteil" inszeniert habe, war ich wegen des absoluten Minimalismus noch sehr unsicher. Bei GOTT wusste ich schon, dass man wirklich nicht mehr braucht als Ferdinand von Schirachs Text, möglichst gute Schauspieler*innen und einen interessanten Raum. 

Mussten Sie die Schauspieler*innen in besonderer Weise auf ihr Spiel einstimmen, damit der quasi dokumentarische Stil des Theaterstückes erhalten bleibt?

Lars Kraume: Wenn diese Filme dokumentarisch wirken, ist das allein der großen Kunst der Schauspieler*innen zu verdanken, denn die Stücke sind abstrakte Versuchsanordnungen, die nur vorgeben, in einem realistischen Rahmen stattzufinden. Ein echtes Gerichtsverfahren, wie bei "Terror – Ihr Urteil", würde sich Monate hinziehen, und der Ethikrat tagt auch anders, als wir es darstellen. Ferdinand von Schirach dramatisiert extrem konzentrierte Sachverhalte von sehr komplexen Diskussionen. Die Schauspieler*innen müssen ihre sehr umfangreichen Texte extrem gut lernen, denn diese Theaterstücke erlauben keinerlei Improvisation.

Die sozialen Medien schaffen es, reichweitenstarke politische Debatten anzustoßen. Kann auch lineares Fernsehen heute noch einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs einleiten? Und welche Mittel stehen ihm zur Verfügung?

Christine Strobl: Für mich ist das kein Entweder-Oder, aber natürlich kann das sogenannte lineare Fernsehen Zuschauer*innen zu einem bestimmten Zeitpunkt – nämlich am 23. November um 20:15 Uhr – gleichzeitig versammeln, um so eine gemeinsame Diskussion mit der Familie, den Kollegen*innen am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis zu führen. Nicht jeder für sich, sondern eben gemeinsam. Und davon unabhängig ist es natürlich unsere Aufgabe, mit interaktiven Formaten auch gerade jüngeres Publikum hierzu wieder einzuladen und damit eine fundierte Grundlage für eine generationsübergreifende Debatte zu schaffen. Wir werden uns natürlich nicht auf die Ausstrahlung im linearen Programm beschränken, sondern mit diesem Thema überall präsent sein – bei Diskussionsveranstaltungen im Vorfeld, im Radio und natürlich auch in der ARD Mediathek. Es geht darum, plattformübergreifendes, inhaltlich starkes Programm zu machen, das sich durch spannende Geschichten und eine einzigartige Umsetzung auszeichnet und modern und aktuell erzählt ist. Dass wir GOTT ausstrahlen, nachdem das Bundesverfassungsgericht neue "Freiheiten" geschaffen hat, ist eine bewusste Entscheidung. Wir greifen filmisch auf, was aktuell die Gesellschaft und die Politik beschäftigen muss und wird. Wir wollen damit eine breite Diskussion anstoßen, die auch ein solch schwieriges Thema besprechbar werden lässt. Und wenn das durch den Film und die anschließende Diskussionssendung mit Frank Plasberg gelingt und wir uns deshalb in der Familie oder im Freundeskreis auf das Gespräch darüber einlassen können, haben wir unsere Aufgabe als öffentlich-rechtlicher Sender erfüllt.

Sie sind eng mit dem Strafanwalt und Autor Ferdinand von Schirach verbunden und haben zahlreiche seiner Bücher verfilmt. Was macht seine Werke so einzigartig?

Oliver Berben: Es ist die Kombination verschiedener Elemente, die die Texte von Ferdinand von Schirach so einzigartig machen. Da ist zum einen die Sprache, die Verknappung, die Konzentration auf das Wesentliche. Die Richtung und Gewichtung der jeweiligen Aussage und Thematik wird dadurch vorgegeben und irrsinnig einnehmend erzählt. Zum anderen gelingt es ihm in jedem seiner Werke, einschneidende gesellschaftlich relevante Themen in einer emotionalen und immer sehr verständlichen Art und Weise an den Leser zu bringen. Er erschüttert den oft sicheren Glauben immer wieder und bringt einen dazu, sich selbst zu hinterfragen und auch Fragen zu stellen. Das führt dazu, dass man sich mit dem eigenen Bild, das man von Dingen hat, auseinandersetzt – und es gelegentlich auch korrigiert. Ich habe jeden Text – zumindest die veröffentlichten – von Ferdinand von Schirach gelesen, und wenig hat mich im Leben so weitergebracht wie seine Werke. Außer vielleicht ein persönliches Gespräch mit ihm.

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