"Eltern müssen sich in den digitalen Raum selbstständig einarbeiten"
Interview mit dem Kriminologen Thomas-Gabriel Rüdiger
Cybergrooming ist ja kein neues oder nicht öffentlich behandeltes Thema. Mit dem Fernsehfilm verbindet sich die Hoffnung der Macher, eine breite Öffentlichkeit und damit auch möglichst viele Eltern zu erreichen. Wie schätzen Sie den Grad an Informiertheit in der Bevölkerung ein?
Cybergrooming – also die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes, strafbar gemäß §176 Abs.4 Nr. 3 StGB – ist ja kein singuläres Phänomen. Vielmehr reiht es sich in die unterschiedlichsten kriminologischen Phänomene von Cybermobbing über Cyberstalking bis Hatespeech im digitalen Raum ein. Hier gab es in der Vergangenheit in der Tat häufig unterschiedlichste Schwerpunkte in der öffentlichen Wahrnehmung. Beispielsweise waren Cybermobbing und in jüngster Zeit auch Hatespeech medial relativ präsent. Dabei fällt auf, das Eltern – genauer Erwachsene – häufig ein sehr separiertes Wissen haben. Wenn z. B. Cybermobbing aktuell ist, beschäftigen sie sich damit. Es müsste aber eher wie im Straßenverkehr funktionieren. Erwachsene kennen hier eigentlich alle Risiken – von Sexualtätern, über Verkehrsunfälle bis zur Konsequenzen bei der Missachtung von Verkehrsregeln – und können somit ihre Kinder auch darauf vorbereiten.
Ist Cybergrooming eine Straftat, die die Polizei stark beschäftigt? Und wie steht es mit Fallzahlen, kann man da Aussagen machen, gibt es belastbare Statistiken?
Cybergrooming ist zu den Missbrauchsdelikten zu zählen, die traditionell ein hohes Dunkelfeld aufweisen. Das bedeutet, dass leider nur wenige Delikte zur Anzeige – also in das Hellfeld – gebracht werden und die meisten Delikte im Dunkeln bleiben. Dabei ist Cybergrooming auch noch ein Kontrolldelikt. Viele Anzeigen erfolgen also nicht durch die Opfer, sondern nur durch Zufall – beispielsweise finden Eltern einen problematischen Chatverlauf auf dem Smartphone oder PC des Kindes – oder wenn die Polizei die Täter aktiv überführt. Unter Beachtung dieser Rahmenbedingungen kann trotzdem gesagt werden, dass in den letzten fünf Jahren die Anzeigenzahlen kontinuierlich gestiegen sind. Sie liegen mittlerweile bei ca. 2000 Anzeigen pro Jahr. Dunkelfeld-studien zu Cybergrooming weisen eine teilweise massive Schwankung in den Ergebnissen auf. Dies liegt u. a. darin begründet, dass die durchführenden Professionen Cybergrooming zum Teil sehr unterschiedlich definieren und auslegen. Die sexuelle Belästigung von Kindern im digitalen Raum – worunter juristisch auch Cybergrooming gefasst wird – ist dabei aber nach fast allen Erhebungen ein absolutes Massendelikt, dem sowohl Jungen als auch Mädchen ausgesetzt sind.
Nach meiner Erfahrung gehe ich davon aus, dass annähernd jedes Kind, das im digitalen Raum aufwächst, mindestens einmal mit einem Cybergroomer konfrontiert wird. Das heißt jedoch nicht, dass die Kinder auch unbedingt realisieren müssen, mit wem sie da sprechen oder was für eine Intention derjenige wirklich hat.
Der von Devid Striesow gespielte Lehrer in "Das weiße Kaninchen" ist eine ambivalente Figur – einerseits aufklärerisch unterwegs, andererseits mit seinen eigenen pädophilen Neigungen kämpfend. Das kann zu einer perfiden Situation führen. Der Missbrauchstäter wiederum ist ein Jugendlicher, nicht etwa ein sich tarnender Erwachsener. Kommen solche Konstellationen auch in der Realität vor?
Die Täter kommen tatsächlich aus allen Schichten und Altersstufen. Dass es in dem Film sowohl einen kindlichen als auch einen erwachsenen Täter gibt, ist absolut realistisch. Häufig herrscht ja ein wenig der Gedanke des älteren Mannes vor, der konspirativ in seinem Kämmerlein sitzt und Jagd auf Kinder macht – im englischsprachigen Raum heißen die Täter übrigens auch passend Online Predators. Diese Täter gibt es tatsächlich, ganz ohne Frage. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist aber seit ungefähr fünf Jahren noch einen ganz anderen Trend auf. Mittlerweile richtet sich im Bereich Cybergrooming jede dritte Strafanzeige gegen ein Kind (ca. 10 Prozent) oder einen Jugendlichen (ca. 25 Prozent). Dies stellt uns sowohl in der Prävention als auch im Bereich des Jugendmedienschutzes vor ganz neue Herausforderungen.
Gibt es denn eine Art allgemeine Vorgehensweise wie Täter vorgehen, um ihre Opfer wie Sara missbrauchen zu können?
Das ist schwierig zu beantworten, da die Modi Operandi – also die Vorgehensweisen - der Täter absolut unterschiedlich sein können. In den unterschiedlichen Wissenschaften herrscht hier auch ein gewisser Disput darüber, was eigentlich unter Cybergrooming erfasst wird. Die Sozialwissenschaften fordern beispielsweise stets den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses durch den Täter zu dem Opfer – das dann auch nicht per se ein Kind sein muss, sondern z. B. auch ein Jugendlicher sein kann. Die Kriminalwissenschaftler und Juristen erfassen hingegen jede Form des Einwirkens mit sexueller Motivation, aber nur bei einem Kind. Ich folge der letzten Definition. Dann sind die Vorgehensweisen aber mannigfaltig. Ich unterteile die Täter in solche, die tatsächlich versuchen das Vertrauen zu gewinnen. Diese Täter gehen langfristig und strategisch vor, können aber bedingt durch den notwendigen Ressourceneinsatz nur relativ wenig Opfer viktimisieren. Der andere Tätertypus will eine möglichst schnelle sexuelle Interaktion mit einem Kind, um dieses dann zu erpressen. Solchen Täter geht es vor allem darum, einschlägiges Bild- und Videomaterial des Kindes zu erlangen, oder selbst z. B. über die Webcam sexuelle Handlungen vor einem Kind vorzunehmen. Diese Täter agieren zumeist nur im Digitalen, entsprechend viele Opfer können die Täter haben.
Sara im Film nimmt den Kontakt mit Unbekannten über den Chat zu einem Quizspiel auf. Spielt Gaming eine besondere Rolle bei der Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen?
Eine der erfolgreichsten Formen Sozialer Medien sind tatsächlich Onlinegames – also Spiele, die zumindest eine onlinebasierte Kommunikation oder Interaktion mit anderen Nutzern zulassen. Kinder beginnen den digitalen Raum zumeist mit Onlinegames zu erkunden. Dabei können sie weitestgehend unkontrolliert auf alle Typen von Erwachsenen und Jugendlichen jeglichen Alters treffen und mit diesen interagieren. Ein Umstand, der in der physischen Realität durchaus zu einer Diskussion führen würde, wenn z. B. achtjährige Kinder mit unbekannten Erwachsenen auf einem Spielplatz zusammen spielen. Dass auch Sexualtäter diese Situation nutzen, hat auch noch andere Gründe. Den meisten Spielen, die Kinder spielen, wohnt aufgrund der meist kindgerechten Grafik oder dem Spielkonzept eine gewisse Verharmlosungstendenz inne, was noch durch teilweise sehr niedrige Altersempfehlungen unterstützt wird. Gleichzeitig liegt in einer spielerischen Interaktion auch ein gewisses vertrauensbildendes Element, einem Täter kann es leicht fallen, Kontakt zu einem Kind über ein gemeinsames Spielerlebnis zu gewinnen. Eltern, die vielleicht bei einem reinen Chatportal hellhörig werden, ist bei Spielen das Risiko womöglich nicht so bewusst. Das Risiko besteht dabei aber nicht nur aus Sexualtätern. In Spielen werden Kinder bereits in jüngsten Jahren mit Extremisten jeglicher Couleur, mit Cybermobbing, aber auch mit einer Vielzahl an weiteren Delikten konfrontiert. Ein Grundproblem ist hier auch der gegenwärtige Jugendmedienschutz, der – vereinfacht dargestellt – nur den negativen Einfluss von Medien auf Kinder verhindern soll, aber nicht, dass ein Kind in einem Programm für Kinder auf einen Sexualtäter oder Extremist trifft. Dies ist in meinen Augen eines der Symptome für eine Gesellschaft, die sich gar keinen Kopf über das Zusammenwirken der Altersstufen im Netz gemacht hat.
Die Anonymität des Netzes hat für die Täter bei der Anbahnung von Kontakten natürlich viel Verführerisches. Zumal Eltern und Sicherheitsbehörden wie die Polizei im Netz wenig sichtbar sind. Was kann man tun, um sichtbarer zu machen, dass Taten auch verfolgt werden?
Hier schwingt die Frage mit, ob das Netz ein rechtsfreier Raum ist. Ein Rechtsraum wird meistens als ein Gebilde definiert, in dem Recht theoretisch gilt. Für mich muss aber in einem Rechtsraum eine gewisse Wahrscheinlichkeit existieren, dass ein Rechtsbruch auch geahndet wird. Abraham Lincoln soll einmal gesagt haben "Laws without enforcement are just good advice". Wenn diese Wahrscheinlichkeit also eher gering ist, gehen Täter ganz offen und aggressiv vor. Vor Kurzem gaben sich hessische Staatsanwälte über zehn Tage als zwölfjährige Mädchen aus und registrierten 338 sexuelle Anbahnungen. Wären solche Zahlen in einem vergleichbaren Experiment im physischen Raum auch so hoch? Ich wage es zu bezweifeln, da dort unsere traditionellen Schutzmechanismen greifen. Täter hätten z. B. auf einem Spielplatz Angst vor anwesenden oder vorbeikommenden Erwachsenen, vor zufällig oder gezielt vorbeikommenden Polizeistreifen und gleichzeitig können auch Kinder adäquater auf die Bedrohungen reagieren, schlicht, weil sie erkennen, dass sie es mit einem Erwachsenen zu tun haben.
Im Netz ist es also nicht nur damit getan zu sagen, wir brauchen mehr Sicherheitsbehörden oder nur die Eltern müssen sich kümmern. Vielmehr brauchen wir eine gesellschaftliche Entwicklung, die den digitalen Raum mit der Sicherheit im Straßenverkehr vergleicht und entsprechende analoge Präventionsmaßnahmen diskutiert. Das heißt, wir brauchen erfahrene und informierte Erwachsene, die ihren Kindern Ge- und Verbote im digitalen Raum vermitteln, Institutionen wie Schulen und Kindergärten, die das richtige Verhalten im Netz thematisieren, einen Rechtsrahmen – vergleichbar der StVO / dem StVG – der unser Miteinander regelt und dann auch Sicherheitskräfte, die diese Regeln mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durchsetzen. Diese Diskussion einzuleiten ist Aufgabe der Politik. Die Sicherheitsbehörden müssen neue gesetzliche Rahmenbedingungen erhalten, um diese Präsenz im digitalen Raum schaffen zu können. Nach dem Legalitätsprinzip müssen Beamte jegliche Straftat im Netz verfolgen, sonst machen sie sich strafbar. Sicherheitsbehörden dürfen faktisch keine Unterscheidung machen zwischen einer Beleidigung, einer Urheberrechtsverletzung und einem sexuellen Missbrauch. Aus meiner Sicht gibt es deshalb nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden die Sicherheitsbehörden massiv mit Personal, Budget und Equipment ausgestattet, um den digitalen Raum zu besetzen, oder sie werden von bisherigen Aufgaben entlastet und es werden ihnen Schwerpunkte, wie z. B. der Kampf gegen Cybergrooming, vorgegeben.
Die aus meiner Sicht schlechteste Variante wäre zu sagen, die Polizei soll nicht im Netz aktiv sein. Denn das berücksichtigt nicht, dass sich Institutionen und Gruppen bilden, die meinen, Recht auch im Digitalen durchsetzen zu dürfen. Im Bereich Cybergrooming gibt es weltweit bereits eine Vielzahl solcher Selbstjustizfälle.
Was raten Sie, wie kann man Kindern und Jugendlichen gesundes Misstrauen einflößen, ohne ihnen den Spaß an der Kommunikation im Netz zu nehmen?
Also zunächst halte ich wenig von Verboten. Halte aber auch nichts von technischen Schutzmechanismen und, wie schon dargestellt, auch nichts von den Altersempfehlungen. Denn diese Mechanismen können viel zu leicht umgangen werden. Häufig höre ich auch die Aussage "Eltern sollen sich von ihren Kindern ihre digitalen Medien zeigen lassen" – z. B. die Games –, das halte ich auch für eine falsche Einschätzung. Wenn Kinder die Deutungs- und Informationshoheit über etwas haben, werden sie unwissenden Eltern vermutlich nie negative Aspekte aufzeigen, sondern eher die positiven. Ich denke, so etwas kennt jeder auch aus seiner eigenen Jugend. Es führt kein Weg daran vorbei: Eltern müssen sich in den digitalen Raum selbstständig einarbeiten, um die Mechanismen und Risiken zu verstehen. Will ein Kind auf dem Smartphone ein neues Spiel spielen, sollten die Eltern es zuerst installieren und intensiv spielen. Dann können sie erkennen, ob das Spiel einen Chatmodus hat, Geld investiert werden kann und welche anderen Risiken vorliegen. Mit diesen Erfahrungen kann dann auf einem annähernd selben Level mit dem Kind über Risiken wie Cybergrooming gesprochen werden. Letztlich auch wie im Straßenverkehr. Ab wann lassen wir unsere Kinder alleine im Straßenverkehr unterwegs sein? Wenn wir denken, dass wir ihnen die Regeln, aber auch die Gefahren so vermittelt haben, dass sie sich sicher bewegen können. Das muss auch als Maßstab für den digitalen Raum gelten.
Ganz zum Schluss aber noch ein kleiner Hinweis. Im Prinzip eröffnet jede Form von sexueller Interaktion mit einem Kind – auch in digitaler Form – einen Strafbarkeitsverdacht, der auch zur Anzeige gebracht werden kann. Das sollte auch genutzt werden, da die Opfer die Delikte nur relativ selten zur Anzeige bringen.