"Tatort"-Datenanalyse
Familienbilder: Drei Trends aus 53 Jahren "Tatort"
Seit mehr als 50 Jahren prägt der Tatort den familiären Fernsehabend wie keine andere deutsche Fernsehreihe. Eine exklusive Datenanalyse des WDR zeigt, wie sich die Rollenbilder rund um das Thema Familie entwickelt haben und inwiefern diese gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. Dabei wurden über 1.200 Beschreibungstexte und Metadaten maschinell ausgewertet. Wie bei der Analyse vorgegangen wurde, erfahren sie hier. Dabei zeichnen sich drei deutliche Trends ab.
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Trend 1: Die junge schöne Frau wird erfolgreich
Im "Tatort" durchläuft das Rollenbild der Frau eine große Entwicklung. Das Wort „Frau“ tritt über den gesamten Zeitraum am häufigsten in Verbindung mit Adjektiven auf, die ihr Alter beschreiben, wie etwa „jung“, „alt“ oder „minderjährig“. Auch das Aussehen hat bei weiblichen Charakteren eine größere Bedeutung: Adjektive wie „hübsch“ oder „schön“ kommen bei 15 Prozent aller weiblichen Charakterbeschreibungen vor – aber nur bei 8 Prozent der männlichen Charaktere.
Doch spätestens ab den 1990er Jahren ist in den analysierten Beschreibungstexten eine deutliche Wendung erkennbar: Das Rollenbild der Frauen wird vermehrt durch Eigenschaften wie „erfolgreich“ und „intelligent“ geprägt. Sowohl in den 90ern als auch den 2000ern treten Eigenschaften, die den Erfolg von Frauen betreffen, in 5 Prozent der Fälle auf. So ist beispielsweise die „erfolgreiche Schwimmerin Sandra Burgstaller“ aus dem Münchner Tatort eine der ersten weiblichen Rollen, die Ende 1999 mit dem Attribut „erfolgreich“ beschrieben wird. Auch von „beruflich erfolgreichen Frauen“ wird erstmalig 1997 gesprochen.
Eine Veränderung, die sich laut dem Berliner Soziologen und Tatort-Kenner Christian Hißnauer im gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess verorten lässt: „Seit ungefähr 2000 ist es ein riesiger Trend, dass es eine Feminisierung des Tatorts gibt. Die Frauenrollen wurden vielfältiger und interessanter“, sagt er im Interview.
Vielschichtigere Männerrollen
Eigenschaften, die den Erfolg oder Ruhm der Charaktere betreffen, werden in allen Jahrzehnten häufiger männlichen Charakteren zugeordnet: In den 70er Jahren werden männliche Rollen zu 28 Prozent über Adjektive beschrieben wie etwa „vermögend“, „angesehen“ oder „wichtig“. Weibliche Charaktere haben in den 70er nur 3 Prozent Beschreibungen, die mit Erfolg verknüpft sind. Das ändert sich ab 2020 nur leicht: Nun werden 9 Prozent der weiblichen Rollen mit Adjektiven beschrieben, die mit Erfolg verbunden sind.
Bei den männlichen Rollenbildern zeichnen hingegen keine eindeutigen Trends ab „Männerrollen waren immer schon vielschichtiger“, so Hißnauer. Insgesamt fällt auf, dass männliche Charaktere in den Beschreibungstexten am häufigsten durch Adjektive beschrieben werden, die ihren Charakter betreffen, wie etwa „gut“, „skrupellos“, „ehrgeizig“ oder „geheimnisvoll“.
Trend 2: Die Opfer werden jünger
In den Folgenbeschreibungen finden sich nur wenige Informationen zu potenziellen Tätern oder Täterinnen, um sie nicht vorab zu enttarnen. Spannender ist es daher Wörter, die mit Opferrollen assoziiert sind, zu untersuchen. Das Opferbild wird über die Jahre hinweg zunehmend von weiblichen und kindlichen Charakteren geprägt. Seit den 90er Jahren nimmt die Anzahl von weiblichen Rollen, die mit dem Adjektiv „tot“, „ermordet“ oder „getötet“ beschrieben werden, stetig zu. Ähnlich ist es bei Kindern, sie werden „entführt“, „ermordet“, „vermisst“ oder sind „verschwunden“.
Nach Einschätzung des Soziologen könne man jedoch nicht sagen, dass hauptsächlich Frauen und Kinder in den Tatort-Filmen die Opfer sind. Dennoch würden sie in den Beschreibungs-Texten häufiger thematisiert, denn: „Das unschuldige Kind, das unschuldige Mädchen, was ermordet wird, bleibt aber natürlich im Kopf. Es ist schockierender“, so Hißnauer.
Trend 3: Weg von der klassischen Familien
Die wohl bekannteste „Familie“ im Tatort sind der Münsteraner Kommissar Frank Thiel und sein „Vaddern“. Familie Thiel ist allerdings keine Familie im klassischen Sinne. Nach der Scheidung der Eltern wuchs Thiel bei seiner Mutter auf und zog erst nach deren Tod zurück nach Münster zu seinem Vater. In den Sendungsbeschreibungen wurden Familien in den früheren Jahrzehnten deutlich klassischer beschrieben: als „wohlhabend“, „glücklich“ und „heil“. Heute sind es Adjektive wie „zerstritten“ und „zerrüttet“, die häufiger das Familienbild prägen.
Die Analyse zeigt, dass sich im Tatort über die Jahre das klassische Modell der Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind, auflöst. Wörter wie „Ehe“, „Mutter“ und „Vater“ stehen spätestens seit den 2000ern häufig in Verbindung mit Beschreibungen wie „geschieden“, „alleinerziehend“ und „getrenntlebend“. Aussagen zu gleichgeschlechtlichen Familien können derzeit noch nicht gemacht werden, da hierfür zu wenige Hinweise in den Beschreibungstexten vorhanden sind.
Spiegel der Gesellschaft?
Die Datenanalyse zeigt, dass die Rollenbilder im Tatort heute diverser aufgestellt sind als früher. „Es ist heutzutage selbstverständlich, dass es Geschäftsführerinnen, Professorinnen und andere gibt. Das gab es in den 70er, 80er Jahren wenig, weil die gesellschaftliche Realität anders aussah“, sagt auch Soziologe Hißnauer.
Dennoch sei der Tatort kein direkter Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen. Man könne zwar viele Dinge aus der Fernsehreihe ablesen, was Veränderung und Rollenbilder angeht, aber sollte die Fiktion nicht außer Acht lassen. „Der Realitätsanspruch, den der Tatort immer hatte, geht heute weitestgehend verloren. Man muss sich bewusst machen, dass es im Film auch darum geht, eine spannende Geschichte zu erzählen.“
Text: Lena Eggert; Datenanalyse: Christian Basl, Lena Eggert, Elena Riedlinger, Redaktion: Urs Zietan, Programmierung: Jannes Höke
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