Interview mit dem Regisseur Niki Stein zum Tatort: Pauline

Das Erste: Die Kommissare Max Ballauf und Freddy Schenk, Charlotte Sänger und Friedrich Dellwo kennen Sie wie Ihre Westentasche ...
Niki Stein: Ja, ich habe zahlreiche Kölner und Frankfurter "Tatorte" inszeniert und diese Figuren selbst entwickelt.

"Tatort"-Ermittlerin Charlotte Lindholm und Niedersachsen sind Neuland in Ihrem Regie-Revier. Wie haben Sie sich der neuen Kommissarin genähert?
Als neuer Mann habe ich mir große kreative Selbstdisziplin verordnet. Ich habe nicht einfach drauflos fantasiert, sondern mich bei der Redaktion, bei der Produktionsfirma und vor allem auch bei der Hauptdarstellerin erkundigt, wie die Figur Charlotte Lindholm und ihre Fälle angelegt sind.

Sie möchten keine eigenen Wege gehen?
Das möchte ich durchaus, aber ich selbst leide sehr darunter, wenn meine Nachfolger auf dem Regiestuhl meine Figuren völlig neu erfinden und ganz anders in Szene setzen, als ich mir das gedacht hatte. Deshalb schaue ich zunächst, was für ein Mensch Charlotte Lindholm in ihren bisherigen "Tatorten" war und wie sie ermittelt hat. Diese Linie möchte ich gern fortführen.

Dabei setzen Sie einige neue Akzente. Schon der Einstieg in den neuen "Tatort: Pauline" ist ungewöhnlich. Der Film beginnt mit einem Fiebertraum der Kommissarin, den Sie mit flirrenden Lichteffekten inszenieren. Lindholm träumt, sie wäre eine Leiche in der Gerichtsmedizin. Wollen Sie von Anfang an eine schaurige Atmosphäre schaffen?
Ich möchte zeigen, dass die Kommissarin von den Schrecknissen, die sie in ihrem Beruf ständig erlebt, bis in den Traum hinein verfolgt wird. Die Idee stammt übrigens von Maria Furtwängler. Lindholm ist vom Schlechten der Welt so übermannt, dass sie sogar davon träumt. Wir haben diese Sequenz filmisch stark überhöht, damit wirklich kein Zweifel besteht, dass wir uns kurzzeitig in einer Traumwelt bewegen.

Wie war die Zusammenarbeit mit Maria Furtwängler?
Sie ist sehr kritisch mit ihrer Figur, sehr genau, sehr bemüht, die Fäden zusammenzuhalten. Wir mussten uns erst einmal gegenseitig das Vertrauen erarbeiten, das ist ein normaler Prozess. Wir haben beide sehr gern zusammengearbeitet.

Kurz darauf sehen wir die 12-jährige Pauline unter der Dusche. Sie drehen das fast wie den Mord unter der Dusche in Alfred Hitchcocks klassischem Schocker "Psycho". Warum steigen Sie so in diesen "Tatort" ein? Weil Sie den eigentlichen Mord kurz darauf nicht zeigen wollen?
Ich habe immer ein klammes Gefühl, wenn es um Kindstötungen geht, weil ich auch selbst Familienvater bin. Da flüchtet man sich manchmal ins Zitat, in die Überhöhung und Übersteigerung. Außerdem lebt dieser Film sehr davon, dass wir falsche Fährten legen – Fährten, denen die Zuschauer erliegen sollen, aber auch die Kommissarin. Dieser „Tatort“ ist daher etwas suggestiver angelegt als viele andere.

Wie gesagt: Den Tod der kleinen Pauline selbst zeigen Sie nicht. Wie wichtig sind diese "unsichtbaren" Momente in einem Krimi?
Ich zeige generell sehr ungern den Tötungsprozess. Die Wirkung ist viel stärker, wenn man den Mord nicht zeigt, wenn sich die Zuschauer die Grausamkeit des Täters selbst ausmalen. Und Gewalt gegen Kinder sollte man im Grunde gar nicht im Fernsehen zeigen. Ich finde es bereits schlimm, wenn in Filmen oder Serien zu sehen ist, wie Kinder bedroht werden.

Die wichtigsten Figuren führen Sie noch vor Paulines Tod rund um ein Dorffest, einem Feuerwehrball, ein. Welche Vorteile bietet so eine Dorfparty dem Regisseur? Soll sofort klar werden, dass es hier zahllose Verdächtige gibt?
Ja, ein Fest ist die klassische Situation, eine Fülle von Figuren schnell einzuführen. Hier kam es mir sehr darauf an, gleich wichtige Spuren und Fährten auszulegen: Wer von den Dorfbewohnern kommt mit wem nicht klar? Wer ist mit wem verfeindet? Außerdem muss so eine Festszene zum Augenschmaus werden, damit der Zuschauer sie genießt und weiter dranbleibt.

Viele Fernsehzuschauer nehmen wohl an, dass Top-Schauspieler eine Gastrolle im "Tatort" vermutlich vor allem dann übernehmen, wenn sie die stärkste Rolle, also die Rolle des Täters übernehmen dürfen. Wie gehen Sie mit diesem Erwartungsmuster um?
Sie haben Recht, oft entpuppt sich ein prominenter Gaststar am Ende als Täter. Bei diesem Film stellte sich dieses Problem nicht, da wir eine ungewohnte Fülle von starken und prominenten Schauspielern für diese Produktion gewinnen konnten. Corinna Harfouch, Martin Wuttke, Wotan Wilke Möhring, Johanna Gastdorf, Max Herbrechter, Thomas Arnold, Peter Ender, die junge Anna Maria Mühe... Man hat selten eine solche Darstellerriege, die sich zudem sehr diszipliniert dem Projekt unterordnet.

Bei Corinna Harfouch erleben wir eine besonders extreme Wandlung: Die Schauspielerin, die wir als selbstbewusste Kommissarin "Eva Blond" oder als stolze Angeklagte "Vera Brühne" kennen und die wir im vorigen Herbst im ARD-Programm als gefühlskalte Magda Goebbels in "Der Untergang" erlebt haben, spielt diesmal eine Frau aus einfachen Verhältnissen, Paulines verzweifelte Mutter, die sich als Putzfrau durchschlägt.
Gerade dieser Gegensatz hat Corinna Harfouch offenbar gereizt. Ich war überrascht, wie realistisch und schonungslos sie an ihre Rolle der Martha Kandis herangegangen ist. Sie hat die Facetten dieser Figur sehr genau und sehr akribisch herausgearbeitet.

Nicht nur Paulines Mutter wird vom Tod des Mädchens erschüttert. Ist die Frage, wie man mit dem Tod eines Kindes umgeht, ein Kernthema in diesem "Tatort"?
Ja, dieses Thema lag mir sehr am Herzen und der Autorin Martina Mouchot sind zu dieser Frage einige, wie ich finde, sehr starke Situationen gelungen, die sich weit vom Klischee entfernen – die Momente, wenn Kommissarin Lindholm Paulines Familie die Todesnachricht überbringt, wenn Schwester Nele bald darauf die Leiche identifizieren muss, wenn später dann Streit in der Familie darüber ausbricht, wer schuld ist am Tod dieses Mädchens.

Zieht Paulines Tod alle Verwandten, alle Freunde, alle Menschen im Dorf in den Abgrund?
Was macht ein Kindstod mit einem Dorf, mit einer Gemeinschaft? Diese Frage haben wir uns gestellt. Dieser Tod reißt Gräben auf, er zerstört gewachsene Beziehungen, aber er hat auch etwas Reinigendes, Klärendes. Es gibt auch positive Auswirkungen unter den Betroffenen, die man zumindest als tröstliches Element betrachten kann. Dies ist einer der ganz seltenen „Tatorte“, der einmal zeigt, was ein Tod bewirkt, was er auslöst, was er anrichtet.

Heißt das, dass Sie auf Humor in diesem "Tatort" ganz und gar verzichten?
Nein, keineswegs. Ich finde allerdings, dass das deutsche Fernsehen beim Humor in den letzten Jahren zunehmend einen falschen Ton angeschlagen hat. Meiner Ansicht nach hat der schenkelklopfende, derbe Humor viel zu sehr die Oberhand gewonnen. Auch im „Tatort“ wird teilweise nur noch nach Gags gesucht und nicht mehr nach Geschichten. Das gibt den Figuren oft eine Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit, die sie überhaupt nicht nötig haben.

Welche Art von Humor haben Sie in diesen "Tatort" hineingebracht?
Wir haben einige komische Szenen in diesem Film, die etwa die Absurdität des Alltags, zeigen. Den Ehemann der Dorfpolizistin, den Pastor Melchior Lichtblau, habe ich als eine solche komische Figur angelegt. Unter der Maske des biederen und kreuzbraven Pastors lässt er nichts unversucht, um mit Kommissarin Lindholm zu flirten. Das ist viel komischer, als wenn ich oberflächlichen Gags hinterherlaufe. Beim Humor möchte ich wirklich eine Rückbesinnung auf einen leiseren und empfindsameren Humor einfordern. Ich habe den Eindruck, dass einige jüngere Regisseure dies bereits versuchen.

Wo wir gerade beim Stichwort Humor sind: Wie sehen Sie als neuer Regisseur beim Niedersachsen-"Tatort" denn die Beziehung zwischen Charlotte Lindholm und ihrem Mitbewohner, dem Schriftsteller Martin Felser?
Ich wollte dieses ungewöhnliche Verhältnis auf keinen Fall im Unklaren lassen. Ist das die große Liebe, die sich beide nicht eingestehen wollen? Oder liebt nur er, und sie fühlt sich in der Umsorgung und in der alten Gewohnheit wohl? Ich habe es so auf den Punkt gebracht: Er liebt sie, er kämpft um sie, und ihr geht es gehörig auf die Nerven. Aber sie hat es sich so gemütlich und schön in dieser Wohnung in Hannover eingerichtet, sie wird so liebevoll von Martin umsorgt – warum also sollte sie ausziehen?

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