Interview mit Autor Thorsten Näter
Wo finden Sie Ihre Stoffe für "Die Kanzlei"? Sitzen Sie oft in Gerichtssälen, um Verhandlungen zu verfolgen?
Im Grunde sammle ich ständig alles, was mir unter die Finger kommt. Zeitungsartikel, Magazinbeiträge, Nachrichten, Websites von Anwälten und Geschichten, die mir erzählt werden. Ins Gericht gehe ich nicht mehr, weil das nicht sehr ergiebig ist, denn im deutschen Recht wird das meiste nach Aktenlage entschieden, jeder weiß alles vorher und es fehlt das überraschende Element, das für Film so wichtig ist. Daher sind auch Anwälte keine sehr ergiebige Quelle. Aber wir arbeiten seit Anfang an mit einem sehr guten Anwalt zusammen, der alle Bücher gegenliest und auf juristische Fehler abklopft.
Inzwischen sind mehr als 90 Folgen "Der Dicke" und "Die Kanzlei" abgedreht. Haben sich die Fälle, die Sie erzählen, über die Jahre verändert?
Die Art der Fälle hat sich tatsächlich mehr und mehr verändert. Ursprünglich standen Fälle mit einer "sozialen Komponente" im Vordergrund. Jetzt halten sie sich mit Kriminalfällen die Waage.
Ihre Serienanwälte Isa von Brede und Markus Gellert halten sich nicht immer streng ans Gesetz. Sind kleine Rechtsverstöße in diesem Metier üblich? Und sind sie in Ihren Augen erlaubt, wenn es der Gerechtigkeit dient?
Nein, solche Verstöße sind nicht üblich, und das ist gut so. Unser Rechtsystem basiert darauf, dass der Einzelne nicht das durchsetzen darf, was er für gerecht hält. Im Film ist das ein bisschen anders. Da wünschen wir uns, dass die Helden unkonventionelle Wege gehen und sich für ihre Schutzbefohlenen selber in Gefahr bringen. Das dient der Unterhaltung und hat keinen Vorbildcharakter.
Ist es der Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit, der für Spannung sorgt und vielschichtige Charaktere ermöglicht?
Ja. Das Recht ist eine Art Schablone, die für alles taugen muss, aber nicht immer auf alles passt. Wir erwarten, dass der Richter in der Lage ist, das Besondere eines Falls angemessen zu würdigen, aber wenn das nicht zu erwarten ist oder der Gegner sich unfair verhält, müssen unsere Helden eingreifen, manchmal auch über das Maß des Üblichen hinaus.
Möchten Sie, dass der Zuschauer über moralische Fragen nachdenkt, etwa: Wie verhalte ich mich richtig?
Oh, mein Gott nein! Wie hat John Ford so schön gesagt: "Wenn ich eine Botschaft hätte, würde ich sie mit der Post schicken." Aber der Zuschauer empfindet vieles um sich herum als ungerecht, und es freut ihn, im TV jemanden zu sehen, der den Missverstandenen und "Unterdrückten" hilft.
Der Beruf des Anwalts gibt filmisch wenig her. Akten, Roben, Gerichtssäle. Trotzdem hat das Genre der Anwalts- und Gerichtsserie einen festen Platz im Fernsehen. Woran liegt das?
Der Anwalts- und Gerichtsfilm ist im Grunde die Fortsetzung des Kriminalfilms mit anderen Mitteln. Zwar ist oft das, worum es geht, bereits passiert, aber umso mehr Spaß macht es, zu analysieren, wie bestimmte Vorgänge zu Stande gekommen sind.
Im Fernsehen ist der Anwalt mal Detektiv, mal Sozialarbeiter, mal Seelsorger – schlüpfen auch Isa von Brede und Markus Gellert in solche Rollen?
Ja. Das hat vor allem damit zu tun, dass dem Fernseh-Anwalt in Deutschland sehr viel weniger Möglichkeiten zur Verfügung stehen als seinem Kollegen im angelsächsischen Raum. Dort reicht es oft, die Geschworenen zu überzeugen oder im Vorverfahren zu verhindern, dass etwas vor Gericht kommt. Da uns diese Mittel nicht zur Verfügung stehen, geht es für uns oft mehr um die Hintergründe der beteiligten Figuren. Und darum, ihnen im Leben zu helfen, wenn es schon vor Gericht nicht möglich ist.
Angeblich verlieren immer mehr Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat. Können sie es im Fernsehen zurückgewinnen?
Klare Antwort: Nein. Das Unbehagen der Bürger hat damit zu tun, dass sie gern einfache Lösungen hätten in einer Welt, die immer komplizierter wird. Viele regen sich über Einzelfälle auf, in denen ihnen die gerichtliche Entscheidung absurd erscheint, und sie verstehen nicht, dass das Recht nicht für Einzelfälle gemacht wird, sondern für jeden Fall funktionieren muss. Was den Schuldigen davonkommen lässt, ist dabei oft auch das, was den Unschuldigen schützt.
Kommentare