So., 21.08.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Estland: Russische Verhöre für ukrainische Flüchtlinge
Viktoria Kovalevska ist in Tallin. Sie hat es geschafft. Mitte April kam sie über Russland aus Mariupol hierher. Gemeinsam mit ihren drei Töchtern wohnt sie nun in der Altstadt bei Freiwilligen. In Mariupol versteckten sie sich 28 Tage lang mit anderen Familien in Kellern. Am dritten April wurden sie von russischen Soldaten entdeckt und rausgeholt. "Man konnte die Stadt nicht wiedererkennen. Alles nur noch Ruinen. Alle Häuser waren versengt, verkohlt, ganz schwarz. Alles drum herum zerschlagen." Zu Fuß musste sich die Familie in Sicherheit bringen in der besetzten Stadt. Viktoria erinnert sich sehr genau: "Als wir anfingen, uns durch die Stadt zu bewegen – da waren eine ganze Menge Fragmente, also von menschlichen Körpern. Man konnte das nicht so genau sehen. Ich erinnere keine konkreten Körperteile, es waren Arme oder Beine. Ich sagte den Mädchen, sie sollten nirgendwo hinschauen – nur nach vorne zum Vater. Lisa schrie dann einmal: 'Mama, ich bin auf jemandes Gehirn getreten.'"
Flüchtende werden in Filtrationslagern festgehalten
Der Weg nach Westen war abgeschnitten durch die Front, erzählt sie. Die Flucht war nur möglich über Russland – in ein sogenanntes Filtrationslager. Im kleinen Ort Uspenska im Luhansker Gebiet warten die Geflüchteten tagelang, werden immer wieder befragt von russischen Militärs und vom Geheimdienst. "Die Fragen gingen immer darum: 'Wohin fahren sie? Warum wollt ihr nicht In Russland bleiben?' Im Ergebnis haben sie sehr lange erzählt, dass wir gar nicht aus Russland raus müssen. Es würde eine tolle Hilfe geben: 10.000 Rubel. Ich habe dann versucht zu sagen, dass ich nach allem, was ich erlebt habe, nicht in Russland bleiben will."
Schließlich kann Viktoria Russland verlassen. Über den Fluss Narva kommen die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer in Estland an. Im März waren es Hunderte jeden Tag. Heute hält nur hin und wieder ein Luxbus aus St. Petersburg am Bahnhof. Die "Freunde von Mariupol" helfen ihnen. Aleksandra Averjanova ist eine von vielen Freiwilligen, die sich seit Kriegsbeginn engagieren. Im Moment schläft niemand hier, weil alle weitergezogen sind. Viele nutzen Narva als Durchgangsstation. Und lassen Klebezettel mit Dankesbotschaften zurück und ihre Erfahrungen in russischen Filtrationslagern. "Einige warten eine Woche lang in der Schlange unter sehr schlechten Lebensbedingungen. Danach gibt man ihnen dann eine kleine Summe Geld – ungefähr 300 Euro und schickst sie in unterschiedliche russische Städte. Sie werden nicht festgehalten – im Prinzip – aber sie haben überhaupt kein Geld und keine Vorstellung davon, wie sie das anstellen sollen, bis nach Europa zu gelangen", erzählt Aleksandra Averjanova.
In Russland helfen Freiwillige den Flüchtenden
Nina kam direkt nach Kriegsbeginn aus Kiew mit ihrem Sohn Aaron. Er hat hier laufen gelernt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind 2,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Russland geflohen. Wie viele dort geblieben sind aus freien Stücken oder gezwungenermaßen – dazu gibt es keine Angaben. Auf jeden Fall aber, helfen auch in Russland Freiwillige denen, die rauswollen. Anders als Aleksandra von "Freunde von Mariupol" hier in Narva, müssen die russischen Helfer im Verborgenen arbeiten. Sie bezahlen Ticktets, stellen Unterkünfte Essen und Wäsche: "Ein großes Problem ist derzeit in Russland, dass die Helfer auch Geld einsammeln, Fundraising machen. Sie sammeln Geld, damit sie Tickets bezahlen können. Aber das Spendenaufkommen in Russland wird immer weniger. Es ist eben eine schwierige wirtschaftliche Lage. Es wird immer schwerer zu helfen."
Viktoria bekam Hilfe. Von Rostov aus haben Russen sie und ihre Familie bewirtet, begleitet und weitergeleitet bis Tallin. "Ich habe das überhaupt nicht verstanden. Die hätten uns nicht helfen müssen. Die kannten uns überhaupt nicht. Das war eine sehr wertvolle Hilfe von einfachen Leuten, die auch nicht reich sind", erinnert sich Viktoria.
Auch in der Talliner Altstadt wohnt Viktoria bei einer russischen Familie. Hereinbitten möchte sie uns nicht. Sie will die Gastfreundschaft nicht ausnutzen. Die kommt aus tiefstem Herzen: "Neulich habe ich mit Dascha geredet und sie meinte: 'Ich helfe Euch, damit Ihr uns nicht hasst.' Und ich meinte: Wie könnte ich Euch hassen?" Viktoria Kovalevska ist dankbar, dass sie erstmal in Estland bleiben kann. In diesen Tagen beginnt sie einen neuen Job als Kindergärtnerin für eine russisch-ukrainische Gruppe.
Autorin: Annette Leiterer, ARD-Studio Stockholm
Stand: 21.08.2022 19:42 Uhr
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