Mo., 10.12.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Frankreich: Wer sind die gelben Westen?
Für die nächsten Tage erwarten die Behörden in Frankreich neue Demonstrationen der gelben Westen, viele fürchten, dass es wieder zu Gewalt und Ausschreitungen kommt. Noch immer ist unklar, wie diese Graswurzel-Bewegung die Politik in Frankreich prägen wird, weil niemand genau weiß, wer die gelben Westen eigentlich sind.
Die gelbe Weste trägt Denis Perrette nicht nur aus Sicherheitsgründen. Für ihn ist sie Zeichen des Protests geworden. Denis ist 56 Jahre alt. Seit fünf Jahren ist er arbeitslos. In Nordfrankreich einen Job zu finden ist schwer. Für jemanden in seinem Alter und ohne Ausbildung ist es aussichtslos. "Ich lebe von 500 Euro im Monat. Wenn ich die Miete abziehe, bleiben 150. Ich habe also 5 Euro am Tag. Das ist schwer. Man muss sich entscheiden: Einen Kaffee trinken, die Vespa tanken oder etwas zu essen kaufen", erzählt Perrette.
"Wir haben Hunger! Das ist doch unvorstellbar"
Frust über Lebensumstände wie diese – das vereint die Gelbwesten. Denis Perette unterstützt sie. Trotzdem sieht er seine "gilets jaune" kritisch und warnt sie in einem selbstkomponierten Lied. Er singt: "Gelbwesten – ihr seid Hoffnungsträger Gelbwesten, lasst Euch aber nicht vereinnahmen. Diese Revolution erinnert mich an eine Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wird. Hü oder Hott, das eine Pferd zieht nach links, das andere nach rechts und die Kutsche bleibt stehen. Ich habe auch viele Zweifel an dieser Bewegung."
Wenige Kilometer entfernt liegt Charlesville: Hier ist die Verzweiflung zu spüren. Was sie vereint: Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation – immer mehr Steuern auf ihre stagnierenden Einkommen. Robert Semonello zum Beispiel war 30 Jahre selbstständig als Bauunternehmer bis er krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte. "Ich habe 420 Euro im Monat, das ist alles. Finden Sie das normal? Ich habe jahrelang Millionen an Steuern und Abgaben gezahlt. Und ich bin kein Einzelfall. Alle diese Leute hier sind in einer ähnliche Situation. Wir haben Hunger! Das ist doch unvorstellbar. In Frankreich. Es kann nicht sein, dass hier jemand hungern muss. Horror!", sagt Semonello.
Mischung aus Ohnmacht und Wut
Emanuelle Macron verachte die einfachen Leute, das erzählt Simon. Diese Mischung aus Ohnmacht und Wut entlädt sich in Gewalt – auch in Charlesville. "Wir wollen eigentlich keine Unruhe stiften. Aber die Politiker halten uns für Taugenichtse. Wir haben die Nase gestrichen voll", sagt Lastwagenfahrer Simon Pereira. Viele Bewohner können sich den Gang auf den örtlichen Weihnachtsmarkt gar nicht mehr leisten. Hohe Steuern fressen die Gehälter auf. Die Reichen werden reicher, der Mittelstand ärmer. Wohnungen und Geschäfte stehen leer. Die Stadt stirbt. Hier an der Grenze zu Belgien – weit weg von Paris fühlen sich die Menschen vergessen von den Politikern.
Wiedersehen mit Denis Perrette. Der Bürgermeister der Stadt wird bei den Gelbwesten erwartet. Dahin wollen wir ihn begleiten. Denis will dem Politiker von seiner Situation berichten. "Ich habe erkannt, dass hinter der Bewegung mehr steckt. Wenn man wie ich arm ist, wenn man zur Suppenküche geht oder sogar auf der Straße lebt, dann verschaffen die Gilets jaunes einem jetzt Gehör", sagt Perrette. Doch plötzlich: Aufruhr im Café. Die Gelbwesten wollen nicht, dass Perrette mit uns spricht. Er sei kein Mitbegründer der Gelbwesten und nicht ihr Sprecher. "Er ist ab und zu bei uns, aber er repräsentiert nicht unsere Bewegung – die "gilets jaunes". Auf gar keinen Fall", heißt es.
"Wir haben eine Regierung, die uns lange Zeit nicht zugehört hat"
Viele Stimmen, die gehört werden wollen. Keiner soll sich mit seiner Geschichte hervortun. Denis Perrette kann das verstehen. Enttäuscht ist er trotzdem. "Macron demission", rufen die Gelbwesten. "Macron tritt zurück". Doch was dann? Das wissen die meisten selber nicht. Immerhin der Bürgermeister von Charlesville lässt sich blicken. Boris Ravignon von der republikanischen Partei. Er ist ein Weggefährte von Macron und kritisiert dessen Politik: "Wir haben eine Regierung, die uns lange Zeit nicht zugehört hat. Jetzt hat sie einige Zugeständnisse bei den Steuern gemacht, eine Geste. Aber das ist ein bisschen spät."
Er selber geht mit gutem Beispiel voran. Er hat sein eigenes Gehalt um die Hälfte gesenkt. Etwas, was auch Macron gut zu Gesicht stehen würde, findet er.
Eines hat Macron mit seiner Politik auf jeden Fall erreicht: Die Menschen in Frankreich halten wieder zusammen. "Ich habe zwei Söhne: Leo und Victoire. Der Ältere studiert Soziologie in Lille. Der Jüngere ist Naturwissenschaftler und arbeitet bei einer Firma hier in der Nähe, an der belgischen Grenze. Er ist leidenschaftlicher Vogelkundler. Ich bin sehr zufrieden mit dem Weg, den sie eingeschlagen haben. Aber das Wichtigste ist: Sie sind gute Jungs, wirklich gute Jungs", erzählt Denis Perrette.
Autorin: Judith Müllender, ARD-Studio Paris
Stand: 11.09.2019 16:25 Uhr
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