So., 09.01.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Kasachstan: Was steckt hinter den Protesten?
Die Region Mangystau im Südwesten Kasachstans. Hier wird Flüssiggas produziert. Kasachstan ist reich an Rohstoffen. Und genau hier beginnen vor einer Woche die Proteste. Als das Gas, das sie doch selbst fördern, plötzlich doppelt so viel kostet. Fast jeder in der Region fährt mit Autogas. "Der Reichtum des Landes gehört dem Volk", steht auf einem der Plakate. Noch glaubt die Polizei an einen lokalen Protest, der sich schnell niederschlagen ließe – doch schon Stunden später sind sie im ganzen Land auf der Straße. Und längst geht es nicht mehr um Gas. Es geht um Korruption, um Machtmissbrauch, es geht gegen die politische Elite – für die symbolisch vor allem einer steht. "Der Alte muss weg" rufen sie in Schymkent, und in Taldykorgan stürzen sie eine Statue des Langzeit-Herrschers Nasarbayew. Im autoritären Kasachstan kommt das beinahe einem Sakrileg gleich.
Machtkampf an der Spitze Kasachstans
Nach Jahrzehnten an der Macht war Nursultan Nasarbajew vor knapp drei Jahren überraschend abgetreten. Als Nachfolger installierte er einen Vertrauten. Aber: Kassym-Schomart Tokajew galt nur als eine Art Juniorpartner. Die Strippen zog weiter "der Alte". Nasarbajew verlieh sich selbst ein mächtiges Amt: Chef des Sicherheitsrats, auf Lebenszeit. Dann kamen die Unruhen – und mit ihnen die Chance für den Junior. Als die Proteste immer stärker werden, nutzt Tokajew die Gelegenheit. Und stellt seinen Vorgänger quasi per Nebensatz kalt. "Als Staatschef – und ab sofort bin ich auch Chef des Sicherheitsrats – werde ich mit maximaler Härte gegen die Aufständischen vorgehen, unsere Bürger schützen." Tokajew erteilt Schießbefehl. Ohne Vorwarnung darf geschossen werden. Es sind nicht nur Warnschüsse. Es soll mittlerweile 164 Tote geben, auch zwei Kinder starben durch Schüsse. Auch die Demonstranten agieren immer brutaler. Mindestens 18 Polizisten werden getötet, blutverschmierte Einsatzwagen nach der bislang schlimmsten Protestnacht.
"Russland wird jetzt viel mehr Einfluss bekommen"
Ausländische Medien gibt es kaum in der Stadt. Für den russisch-sprachigen Dienst der Deutschen Welle berichtet Anatolij Waisskopf aus Almaty. Am Telefon erzählt er, man vermute Provokateure unter den Demonstranten. Die Leute hier sagen, sie hätten mit denen nichts zu tun, sie seien friedlich. Es gibt sogar Gruppen, die hier in der Stadt die Trümmer aufräumen. Immer wieder ist die Rede von Provokateuren. Erst gestern ließ Tokajew den Geheimdienstchef festnehmen, ein Mann Nasarbajews. Der habe einen Umsturz geplant. Andere beschuldigen Tokajew selbst, die Unruhen provoziert zu haben.
Doch Provokateure habe es gar nicht gebraucht, sagt der Kasachstan-Experte Timur Umarow. "Mit scheint, es ist viel einfacher. Da hat sich jahrelang Frust und Wut über die Ungerechtigkeit angestaut, und jetzt kocht es über. Vielleicht gab es Provokateure, aber das allein erklärt es nicht." Dass jetzt auch Russland im Spiel ist, macht die Lage nicht einfacher. Überraschend schnell rief Tokajew Verbündete zur Hilfe – allen voran Moskau. Plötzlich sind mehrere Tausend russische Soldaten im Land. Für Kasachstan eine schwerwiegende Entscheidung. Und eine folgenreiche, glaubt Umarow. "Kasachstan war eine Art Vorbild in Zentralasien für eine ausbalancierte Außenpolitik. Eine ideale Balance zwischen China, dem Westen und Russland. Die wird wohl nicht mehr zu halten sein. Russland wird jetzt viel mehr Einfluss bekommen", sagt Timur Umarow.
Lange Schlangen vor den Läden, in den Städten Miltitär. Auch, wenn es nur noch vereinzelt Proteste gibt: Kasachstan wird so schnell nicht zur Ruhe kommen.
Autorin: Ina Ruck, ARD-Studio Moskau
Stand: 10.01.2022 11:03 Uhr
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