So., 01.08.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Schweden: Gewalt-Welle in den Städten
Tatort Schweden: eingeschossene Fensterscheiben, brennende Autos, ein wütender Mob. Und: Eine Exekution am helllichten Tage. Schwedens Banden schrecken vor nichts mehr zurück. Besonders in den Vororten der großen Städte eskaliert die Gewalt.
Carolina Sinisalo wohnte lange mit ihren Kindern in Akalla, nördlich von Stockholm. Vor fünf Jahren kommt es direkt vor ihrer Haustür zu einer Schießerei. Ihre zwei Söhne standen zufällig zum Rauchen draußen, als maskierte Jungs das Feuer eröffnen: "Er hat sich vor seinen Bruder gestellt, um ihn zu schützen. Dann haben sie geschossen. Hier sieht man immer noch ein Schussloch. Und Robin ist hier gestorben", erinnert sich Carolina Sinisalo. Robin Sinisalo stirbt mit 15 Jahren. Sein älterer Bruder überlebt schwer verletzt. Die Polizei kann den Fall bis heute nicht aufklären. Das Motiv der Täter: unklar. "Denen ist alles egal. Die schießen mitten im Zentrum, sogar in der Pizzaria. Sie sind eiskalt", sagt Carolina Sinisalo
Seit Jahren eskaliert die Gewalt in den Vororten
Schweden hat ein Problem. Seit Jahren eskaliert die Gewalt in den Vororten. Gangs beherrschen ganze Stadteile. Dass Kinder zu Opfern werden ist in Schweden kein Einzelfall. Auf dem Parkplatz einer Fastfoodkette gerät eine 12-Jährige zufällig zwischen die Fronten zweier Banden und stirbt. Ihr Tod schockiert das ganze Land und die zuständigen Polizeibeamten wie Martin Lazar von der Kommunalpolizei Botkyrka: "Für mich war das besonders tragisch, dass wir ein so junges unschuldiges Mädchen verloren haben. Nur weil sie am falschen Platz war, darf man nicht sein Leben verlieren."
Seit sieben Jahren versucht Lazar im Süden Stockholms das Thema Bandenkriminalität in den Griff zu bekommen. Die Polizei müsse präsent sein, sagt er, mit den Leuten im Kontakt bleiben. Aber die Beamten könnten die Gewaltspirale nicht alleine beenden. "Die Motive der Gangs sind oft Geld, Status, Prestige – viele dieser Kinder und Jugendlichen hatten es schwer im Leben: abwesende Eltern, oft keinen Kontakt zum Vater, schlechte Schulnoten und sie wollen irgendwo dazugehören. Und in einer kriminellen Gruppe bekommt man schnell ein Zugehörigkeitsgefühl. Du wirst gesehen und bekommst Zuspruch. Am Anfang mögen sie dich, aber dann wendet es sich.“ In Internetvideos prahlen Banden mit ihren Schnellfeuergewehren. Wer sich behaupten will, müsse Stärke zeigen – auch mit Waffen.
"Ein Machtgefühl, das ich sonst nicht hatte"
Wir treffen ein ehemaliges Bandenmitglied, dürfen sein Gesicht aber zu seinem Schutz nicht zeigen. Seit einigen Jahren ist er in einem Aussteigerprogramm. Er erzählt: "Es ist ja nicht so, dass du sofort jemanden erschießt. Sondern es ist eine Normalisierung der Verbrechen und der Gewalt. Das führt dazu, dass man immer mehr Grenzen überschreitet. Je aggressiver ich wurde, umso mehr hatten die Leute Angst vor mir. Das gab mir ein Machtgefühl, das ich sonst nicht hatte. Zum ersten Mal konnte ich etwas kontrollieren in meinem Leben. Das war wie eine Droge für mich."
Da wieder herauszukommen, ist schwer. In einem Stockholmer Jugendzentrum gibt es das Projekt "Passus" für Aussteiger. Peter Svensson war früher selbst Mitglied einer Gang. Diebstahl, Erpressung, Waffengewalt, dafür saß er vier Jahr lange ein. Heute will er anderen kriminellen Jugendlichen zurück ins normale Leben helfen: "Man merkt, dass man etwas anderes im Leben will, bekommt vielleicht Kinder. Man hat diese Verlogenheit gesehen, die Konsequenzen, die auf einen warten, der Stress, in dem man tatsächlich lebt – davon will man weg. Aber das bringt große Ängste mit sich. Die Sicherheit, die Geborgenheit, die man bisher hatte fällt dann weg. Man glaubt, ich kann nur das Kriminelle, ich kann nichts anderes. Aber jeder, mit denen wir arbeiten, hat ja verschiedene Stärken und wir helfen ihnen, sie zu finden und zurück in die Gesellschaft."
EU-Vergleich: Schweden bei Schusswaffendelikten Spitzenreiter
Solche Projekte gibt es bereits seit vielen Jahren. Und doch nimmt die Gewalt zu. Schweden ist im europäischen Vergleich bei Schusswaffendelikten an der Spitze. Eine Tat kann schnell zur nächsten führen. Viele kleine Banden rivalisieren und bekämpfen sich. Die Politik, glaubt Carolina Sinisalo, habe diese Gefahr zu lange unterschätzt: "Ich glaube, dass sie nicht damit gerechnet haben, dass es so weit gehen würde. Und jetzt sitzen sie da. Und es gab viele, die seit über 15 Jahren gewarnt haben: 'Das wird gefährlich, wenn man nichts macht.'"
Robins Tod wird sie immer begleiten. Dennoch hilft es Carolina, seine Geschichte zu erzählen. Damit sich endlich etwas ändert in Schweden.
Autor: Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm
Stand: 30.07.2021 18:55 Uhr
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