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Ostukraine– Alltag im Schatten der Krise

Ostukraine– Alltag im Schatten der Krise | Bild: NDR

Nur noch ein Kilometer und man wäre in Russland, früher konnte man hier einfach weiterfahren. Jetzt darf nur noch der Grenzschutz durch, der Übergang ist geschlossen. Irgendwo hinter dem schneebedeckten Feld sind jetzt russische Soldaten. Wie viele genau, weiß niemand, aber: Sie sind da.
Das wissen sie auch in Woltschansk. Auf ukrainischer Seite, nur sechs Kilometer von Russland entfernt. Früher war die Nähe ein Segen, sagen sie hier. Jetzt ist sie beinahe ein Fluch. Jetzt liegen sie hier quasi in Schussweite.

"Für uns hier ist Russland kein Feind"

Woltschansk ging es schon mal besser. Vor der Annexion der Krim, vor dem Krieg im Donbas, gleich nebenan. Als es noch Handel gab und regen Grenzverkehr mit der anderen Seite, da gab es auch mehr Arbeit. "Als die Russen noch herkamen" – so beginnen hier viele Sätze, besonders auf dem kleinen Markt von Woltschansk. Als die Russen noch kamen, sagen sie hier, war alles besser. Das Geschäft, die Beziehungen, das Leben, alles.
Sie kamen zum Beispiel für Salo nach Woltschansk – für den typisch ukrainischen gesalzenen Speck, mit Wodka und Schwarzbroteine Delikatesse. "Als es den Zug noch gab, da kamen so viele her. Unser Speck ist einfach anders als der in Russland, schauen Sie, wie weich er ist“, sagt die Markt-Frau.

Besorgt sind sie alle auf dem Markt – nicht nur, weil das Geschäft so viel schlechter läuft als früher. "Weiß der Himmel, ob Russland einmarschiert. Natürlich beunruhigt uns das. Aber nein, nein, wir glauben das hier nicht. Die Mehrheit denkt so. Ich weiß nicht. Wir gehörten doch immer zusammen. Für uns hier ist Russland kein Feind", sagt eine weitere Frau auf dem Markt. So sieht es auch die Verkäuferin, draußen am Bonbonstand. Wie fast alle hier hat sie Familie drüben: "Natürlich, und wir halten ganz engen Kontakt. Sehr herzliche Beziehungen, ich habe nichts gegen sie. Natürlich habe ich ein bisschen Angst, alle hier haben das." Eine Besucherin des Markts ergänzt: "Ich hab auch Familie dort. Aber sorry, wenn jemand dich bedroht, wie kann er dann noch Familie sein? Es geht nicht mehr, wir haben keinen Kontakt mehr." Ein Mann sagt: "Die werden da belogen vom Fernsehen. Hier bei uns gucken sie auch die russischen Sender. Mein Vater hat das auch immer geguckt. Die machen einen Zombie aus dir, am Ende glaubst du das alles."  An vielen Häusern in Woltschansk hängen zwei Satellitenschüsseln, in zwei Richtungen: eine für russisches, eine für ukrainisches Fernsehen.

Eine Autostunde entfernt liegt Charkiw. Hier leben 1,5 Millionen Einwohner, nach Kiew die größte Stadt der Ukraine. Nur 30 Kilometer Luftlinie sind es bis nach Russland. Charkiw ist eine Uni-Stadt, aus der ganzen Welt kommen sie zum Studieren her. Und Charkiw ist zweisprachig, wie das ganze Land. Ukrainisch und Russisch sind beides Amtssprachen. Hier im Osten sprechen fast alle russisch.

Maidan – Revolution der Würde

Eine Frau im Interview.
Der Maidan habe Charkiw und die Leute verändert, sagt Maryna Chmelnitska. | Bild: NDR

Überhaupt war man Russland immer sehr nah. Bis zum Jahr 2014. Auch in Charkiw gab es damals eine Maidan-Bewegung, wie in Kiew. Bis heute erinnert ein Zelt daran. Als der damalige ukrainische Präsident auf Drängen Moskaus eine Kehrtwende weg von Europa machte, gingen sie auch hier auf die Straße. Maryna Chmelnitska unterrichtet Mathematik in Charkiw. Sie ist russischsprachig aufgewachsen – und spricht jetzt lieber ukrainisch. Der Maidan, die ganze Zeit damals, habe die Stadt und die Leute verändert, sagt sie heute. Und zwar grundlegend. Auch sie selbst. "Unser Maidan, das war die Revolution der Würde. Die Geburt unserer Würde. Wir haben auf einmal verstanden: Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen. Wir sind Ukrainer, wir wollen nach Europa. Und nicht umkehren und zurück nach Russland. Das kann man nicht machen mit uns, wir sind freie Leute, wir haben ein Recht auf unsere eigene Stimme."

Dass viele in Russland das Ukrainische für einen Dialekt des Russischen halten, dass Präsident Putin sogar sagt, Ukrainer und Russen seien ein Volk– das ärgert sie maßlos: "Wir haben die Verbindung abgebrochen zu manchen Freunden dort. Weil sie sagen, ein ukrainisches Volk existiere nicht. Man kann nicht mit Leuten reden, die sagen, es gebe dich gar nicht. Sogar eine enge Freundin von mir sagt sowas. Sie glaubt auch, dass Russland mit starker Hand geführt werden müsse. Wir Russen sind so, sagt sie, wir brauchen das. Verstehen Sie? Die sind sogar einverstanden mit sowas! Aber in der Ukraine? Nein. Das geht bei uns nicht mehr." Keine Angst haben, sagt Maryna, das sei das Wichtigste. Aber es sei schwer angesichts der Nachrichtenlage.

Ukraine: Bedrohung von drei Seiten

Kriegsschiff
Demonstrativ übt Russland die Verteidigung der annektierten Krim – mit mehr als 30 Kriegsschiffen. | Bild: NDR

Von drei Seiten sieht die Ukraine sich bedroht. Im  benachbarten Belarus hält Russland ein Manöver ab. Laut NATO sollen 30.000 russische Soldaten dort sein, auch dicht an der Grenze zur Ukraine. Manöver auch im Schwarzen Meer. Demonstrativ übt Russland hier die Verteidigung der annektierten Krim – mit mehr als 30 Kriegsschiffen entlang der ukrainischen Küsten. Und dann wäre da noch die lange russisch-ukrainische Landgrenze – bei Charkiw zum Beispiel. Dass auch hier in der Nähe Einheiten stehen, ist ein offenes Geheimnis. Noch aber ist in Charkiw nichts von Panik zu spüren. "Wir haben schon vor nichts mehr Angst, ehrlich. Ich zum Beispiel gucke einfach keine Nachrichten mehr, ich mache alles aus. Ich bin so, das hilft mir", sagt eine Passantin. Eine andere Frau sagt: "Es ist noch nicht soweit dass wir jetzt die Sachen packen und einen Fluchtweg suchen oder so. Wir hoffen immer noch." Und eine ältere Dame meint: "Tief im Innern ist schon Angst. Hoffen wir, dass alles gut geht, das Putin genug Verstand hat und es nicht wagt. Denn uns beschützen unsere Armee, die EU und so viele andere Staaten."

Ein gutes Verhältnis zu Russland wünschen sich hier viele. So wie früher. Gute Nachbarn wollen sie sein, und gleichberechtigte Partner.

Autorin: Ina Ruck, ARD-Studio Moskau         

Stand: 13.02.2022 19:42 Uhr

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