So., 17.12.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Erschöpfung nach fast zwei Jahren Krieg
Nach fast zwei Jahren Krieg ist die Erschöpfung überall in der ukrainischen Bevölkerung zu spüren. Es wird immer schwieriger, Soldaten für die Front zu finden. Diejenigen, die über Monate die brutalen Kämpfe durchgehalten haben, können nicht adäquat ersetzt werden. Auch in den Städten und Dörfern leidet die Zivilbevölkerung unter dem inzwischen wieder zunehmenden russischen Angriffs-Druck. Und die Kinder im Land leben seit fast zwei Jahren unter den Bedingungen des Krieges, den Russland über die Ukraine gebracht hat.
Im Schnee zu spielen ist für Mischa das Schönste. Er ist damit groß geworden. In der Kleinstadt Wugledar in der Nähe von Donezk hatten sie immer mehr Schnee als hier in Kyiv. Doch von Wugledar ist nicht mehr viel übrig geblieben. Bei der russischen Großoffensive im vergangenen Jahr, wurde die Kleinstadt dem Erdboden gleichgemacht. Mischa lebt seitdem mit seinen Eltern in Kyiv. "Ich erinnere mich nicht mehr an alles", sagt Mischa. "Aber es war schön da. Ich kannte alle und ich hatte einen Hund, den ich immer gefüttert und ihm Wasser gegeben hab. Dann begann der Krieg."
Traumata: Malen hilft Kindern
Mischa ist nicht das einzige Kind, das in diesem Kyiver Kindergarten eine Flucht hinter sich hat. Sie alle erleben den Krieg hautnah – auf die ein oder andere Art. Die Erzieherinnen versuchen die Kinder aufzufangen. "Es gibt hier auch Kinder, deren Väter an der Front sind. Das stresst sie sehr. Sie wissen leider ganz genau, dass es dort immer zu Explosionen kommt. Wenn sie sich Sorgen machen, schlagen wir vor, Amulette für ihre Väter zu basteln und wir bringen die anderen Kinder dazu, sich um diejenigen zu kümmern, deren Väter in Gefahr sind", sagt Tetiana Byschowets, Leiterin des Kindergartens.
Nach fast zwei Jahren Krieg haben sie viel Erfahrung gesammelt im Umgang mit den Traumata der Kinder. Die Psychologin Iryna Sinenko, tauscht sich ständig mit Kolleginnen im ganzen Land aus. Vor allem das Malen helfe den Kindern: "Die Kinder zeichnen und spielen oft Krieg. Wenn sie Panzer malen, Granaten oder Gewehre, dann zerknüddeln wir das Papier mit ihnen gemeinsam und schmeißen es zusammen weg oder wir zerreißen es. So übertragen sie ihre Aggression auf das Papier und wir helfen ihnen damit fertig zu werden." Papierzerknüllen – manchmal mehrmals am Tag. Schließlich leben diese Kinder mitten im Krieg, meint sie. Er hat sie geprägt. Die ukrainische Gesellschaft wird noch lange damit zu tun haben: "Diese Kinder werden einfach unglaublich schnell erwachsen. Wenn sie in die Schule kommen, haben die meisten hier schon "crowd-funding" gemacht, Spenden für die Armee gesammelt. Sie wissen genau, wie sie sich bei einem Luftalarm verhalten müssen. Aber darin sehen sie erst einmal nicht Negatives. Im Luftschutzkeller spielen sie mittlerweile einfach weiter oder singen Lieder.
Kinder werden lange psychologische Betreuung benötigen
Der Krieg ist zum Alltag geworden – auch in Kyiv. Ukrainische Kinder werden noch über Jahre psychologische Betreuung benötigen, um gegen Depressionen, Ängste und Wutanfälle anzugehen. "Und ich sehe nicht, dass sich die Situation normalisiert. Manchmal haben wir fünf Mal am Tag Alarm, auch an den Wochenenden. Die Kinder essen und schlafen nicht gut. Ich möchte ein unbeschwertes Leben für diese Kinder", sagt Erzieherin Svitlana Hontschar.
Noch will der kleine Mischa manchmal zurück nach Wugledar, um seinen Hund zu füttern. Wie die anderen auch, macht er sich ständig Sorgen um die, die zurück geblieben sind. Doch immer mehr wird Kyiv für ihn zur Heimat, denn hier sind seine Freunde, mit denen er die vergangenen Monate durchgestanden hat.
Autorin: Birgit Virnich, ARD-Studio Kiew
Stand: 17.12.2023 19:41 Uhr
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