So., 29.11.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Äthiopien – Der Krieg um die Provinz Tigray
Eigentlich wollte er die äthiopische Armee verlassen. Aber sein Vorgesetzter bat ihn zu bleiben – für einen letzten Einsatz im Norden. Der müsste jetzt eigentlich vorbei sein. Doch Alemitu Alemu Gobena sitzt immer noch mit ihrer Tochter Mekdes vor den Fotos ihres Sohnes, ohne eine Nachricht vom ihm: "Ich war Mutter und Vater für ihn, er ist mein Sohn. Wenn andere schliefen, habe ich hart gearbeitet, als Haushälterin. Damit aus ihm was werden konnte. Ich hoffe, die Jungfrau Maria bringt ihn mir lebendig zurück. Nicht nur meinen Sohn – alle, denen es so geht." Und Tocher Mekdes sagt: "Für meine Mutter wäre es jetzt an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen, nicht um ihr Kind zu weinen, umgeben von dieser Trauer und Unsicherheit."
Wenn die Parolen und Nachrichten über den Krieg im Norden aus dem Fernseher flimmern, bekommt die Angst immer wieder neue Nahrung: "Manchmal tut mir unsere Nation leid. Wenn ich etwa sehe, wie eine Mutter und ihr Kind in unserem Land abgeschlachtet wurden, Und das ist jetzt bei uns Realität geworden", sagt Alemitu Alemu Gobena.
Äthiopiens Armee im Kampf gegen den rebellischen Norden
Eine Realität des Krieges: Äthiopiens Armee im Kampf gegen den rebellischen Norden. Im abtrünnigen Landesteil Tigray gab es seit Monaten Spannungen. Die dort regierende Befreiungsfront von Tigray TPLF dominierte jahrzehntelang die äthiopische Politik. Dann kam 2018 der aktuelle Regierungschef Abiy an die Macht. TPLF-Chef Debretsion Gebremichael wurde nur Verwaltungschef von Tigray. Dennoch empfing er Abiy Ahmed noch 2018 sehr freundlich in der Provinzhauptstadt Mekelle. Das ist als vorbei. Aus dem Theaterdonner der vergangenen Jahre wurde Geschützlärm und ein Krieg, der mit der Einnahme von Mekelle vorbei sein könnte – womöglich aber auch nicht.
Selbst zur Einnahme der Regionalhauptstadt gibt es keine verlässlichen Informationen. Die Zeitungen schreiben, was verlautbart wird. Überprüfen lässt sich kaum etwas. Telefon und Internet sind abgeschaltet, Journalisten werden schon mal ermahnt. Auch der gefragte Analyst der Denkfabrik "International Crisis Group", William Davison, wurde aus dem Land geworfen: "Propaganda spielt in jedem Krieg eine große Rolle. Im Moment haben wir regelmäßige Pressekonferenzen der Militärs und Regierungen von beiden Seiten. Das Problem ist doch: Wie weit kann man ihnen trauen?"
Propagandakrieg und Flucht in den Sudan
Im Zentrum des Propagandakrieges der vergangenen Wochen, Aufnahmen, die Opfer eines Massakers im Südwesten Tigrays zeigen sollen. Sicher ist: Am 9. November wurden in Mai Kadra Hunderte Menschen erschlagen oder erstochen. Die staatlich ernannte, äthiopische Menschenrechtskommission spricht von 600 Saisonarbeitern, die nicht der Volksgruppe der Tigray angehören sollen. Waren die Täter Tigrayer? Die TPLF sagt nein und weist eine Mitschuld zurück. Vorwürfe gibt es auch gegen die Regierungstruppen: Flüchtlinge in den Lagern des benachbarten Sudan beschreiben Gewalttaten, angeblich begangen durch Regierungstruppen: "Auf dem Weg nach Hamdayet sahen wir viele tote Kinder und junge Männer. Unsere Kinder waren hungrig und durstig, aber auch in Hamdayet gab es nichts zu essen. Dann kamen wir im Sudan an", erzählt Flüchtling Terhas.
Je mehr von Gräueltaten die Rede ist, desto mehr Menschen strömen in die Flüchtlingslager, gerade in den Sudan. Die Auseinandersetzung ist längst zu einem Bruderkrieg geworden. Stunden nach dem Fall von Mekelle detonieren sechs Raketen aus Tigray in Asmara – der Hauptstadt von Eritrea, das mit Äthiopiens Regierung verbündet ist. Das klingt nicht so, als gäben sich die Kämpfer der Volksbefreiungsfront TPLF geschlagen: "Sie haben jahrelang gekämpft, zwei Jahrzehnte lang, abseits der Städte. Sie kennen die Landschaft, das unwirtliche Hochland, sehr gut. Und das tigrayische Volk steht weitgehend hinter der TPLF. Die hat das Land seit den 1970er- Jahren geführt. Die Menschen werden sie jetzt nicht einfach fallen lassen", erklärt Martin Plaut vom Institute of Commenwealth Studies.
Viel steht auf dem Spiel: Die Einheit des Landes, die Stabilität der ganzen Region am Horn von Afrika. Und das Schicksal vieler Familien. Wer ist am Ende Opfer? Wer Täter? Für Alemitu Alemu Gobena, die Soldatenmutter, spielt das keine Rolle. Sie möchte nur ihren Sohn wiederhaben: "Wenn ich andere in ihrem Schmerz sehe, dann frage ich nicht, ob sie Tigray oder Amhara sind, ich fühle mit den Opfern. Warum werden Menschen getötet, ohne guten Grund?" Keiner weiß, wie lange sich die Menschen hier diese Frage noch stellen müssen.
Autor: Norbert Hahn, ARD-Studio Nairobi
Stand: 29.11.2020 20:16 Uhr
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