So., 07.06.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Hongkong: Die große Angst vor Festland-China
Vor einem Jahr begannen die Proteste in Hongkong gegen ein geplantes neues Sicherheitsgesetz. Dieses Gesetz sollte Auslieferungen nach Festland-China möglich machen. Für die Demokratie-Bewegung in der ehemaligen britischen Kronkolonie wurde der Grundsatz "Ein Land - zwei Systeme" damit ausgehebelt. Über Monate demonstrierten Millionen in Hongkong gegen die Pläne ihrer Stadt-Regierung und legten die Geschäftsmetropole lahm. Das Stadt-Parlament in Hongkong hat das Gesetz bisher nicht beschlossen. Auf dem jüngsten Volkskongress in der chinesischen Hauptstadt Peking hat die Führung der Kommunistischen Partei jedoch die Weichen neu gestellt.
Wir treffen Vivian mitten in Hongkong, ihren echten Namen sollen wir nicht nennen, denn sie ist gegen Kaution frei und lieber vorsichtig. Die 17-Jährige wurde bei Protesten festgenommen, als sie für Freiheitsrechte demonstriert hatte. Jetzt erwartet sie eine Anklage wegen "Aufruhrs." Sie muss jahrelange Haft fürchten. Polizei ist aufmarschiert, denn die Menschen hier wollen zu einer Demonstration – Vivian diesmal nicht. "Ich muss mich von riskanten Situationen fernhalten, denn wenn ich noch mal festgenommen werde, muss ich sofort in Haft. Es ärgert mich, denn ich will etwas beitragen, aber ich kann nicht mitmachen und fühle mich machtlos." 50 Meter weiter demonstrieren sie dann die Macht der Straße. Tausende ignorieren das Versammlungsverbot der Hongkonger Behörden und treffen sich — so wie jedes Jahr – um der Opfer des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens in Peking vor 31 Jahren zu gedenken.
Demonstranten verhindern Auslieferungsgesetz
Ein Jahr ist es her, als der Protest gegen ein geplantes Gesetz, das Auslieferungen von Hongkong nach Festland-China ermöglichen sollte, beginnt. Millionen sind über Monate dabei. So wie Dorothy Wong. Von Anfang an half sie jungen Menschen, die sich gegen Pekings wachsenden Einfluss stellten – die den harten Kurs von Polizei und Regierung in Hongkong kritisierten: "Sie klagen die jungen Menschen gleich wegen Aufruhrs an, nicht wegen Widerstands gegen die Polizei oder so etwas. Das ist einfach lächerlich.“ Monatelang gibt es heftige Zusammenstöße von Polizei und radikalen Demonstranten. Bis heute wurden etwa 600 Menschen festgenommen und wegen "Aufruhrs" angeklagt – ihnen drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Mit den Demonstrationen hat die Protestbewegung das geplante Auslieferungsgesetz gestoppt. Doch Dorothy erzählt uns, dass jetzt viele Familien tief gespalten sind – mit Konsequenzen für junge Erwachsene, die in Hongkong oft lange bei ihren Eltern wohnen. "Es passiert häufig, dass uns junge Menschen um Hilfe bitten, eine Unterkunft für sie zu finden. Weil sie politisch eine andere Meinung vertreten als ihre Eltern, haben die sie zu Hause rausgeworfen." Dorothy und wohlhabende Freunde unterstützen dann, denn Hongkongs Mieten gehören zu den teuersten der Welt. Da helfe nur Solidarität.
Peking setzt auf Härte
Die Kommunistische Führung in Peking setzt indes auf Härte. Beim Volkskongress bringt sie ein sogenanntes Sicherheitsgesetz auf den Weg, das in Hongkongs Grundgesetz verankert werden soll. Damit kann Peking eigene Sicherheitskräfte in Hongkong einsetzen – und so jede Kritik mundtot machen, fürchten viele Honkonger.
Ein prominenter Gegner Pekings, der Verleger Jimmy Lai, wurde vor sieben Wochen festgenommen, weil er nicht genehmigte Versammlungen organisiert haben soll. Der 72-Jährige ist jetzt gegen Kaution frei. Das Sicherheitsgesetz bedeutet das Ende Hongkongs, das sei klar, sagt er: "Das ist wie die Abschaffung unseres Grundgesetzes. Das zerstört Hongkong. Denn ohne Rechtsstaatlichkeit ist der Status unseres Finanzzentrums zerstört. Denn ohne Gesetzesschutz hat die Geschäftswelt keinen Schutz, außer man besticht die Beamten, die die Macht über einen haben. Wir werden wie Festlandchina." Den Hongkongern bleibe nur: Auswandern oder Widerstand leisten. "Vielleicht haben einige Leute noch die Wahl, zu bleiben und gegenüber der chinesischen Regierung unterwürfig zu sein – so wie die Chinesen auf dem Festland. Aber ich selbst werde bleiben und kämpfen. Bis zum letzten Tag."
Auswandern? Viele Hongkonger denken darüber nach
Vivian will später einmal Politikwissenschaft studieren. Doch noch wartet sie auf ihr Gerichtsverfahren – Termin und Ausgang ungewiss. "Ich habe Angst davor, verhaftet zu werden und davor vier Jahre oder noch länger ins Gefängnis zu müssen. Dann werde ich viele Jahre verlieren, die ich sonst fürs Studieren nutzen könnte.“ Ihre Mutter arbeitet als Verkäuferin, ihr Vater als Sicherheitsmann, auch er will anonym bleiben. Die Eltern halten zu ihrer Tochter und verstehen, dass sie für ihre Zukunft protestieren geht: "Sie und wir können nicht einfach auswandern, dafür fehlt das Geld - völlig unmöglich, das können wir uns nicht leisten. Darüber nachzudenken, macht einen nur noch verrückter", sagt Vivians Vater.
Was für die Familie ausgeschlossen ist, können sich laut einer Umfrage ein Drittel aller Hongkonger vorstellen: auswandern. Zweieinhalb Millionen Menschen, die an eine Zukunft hier nicht mehr glauben.
Autor: Daniel Satra, ARD-Studio Peking
Stand: 07.06.2020 20:33 Uhr
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