Mo., 19.09.16 | 05:00 Uhr
Das Erste
Russland: Wachsen in der Wirtschaftskrise – eine Erfolgsgeschichte
Aus diesem Dorf zieht niemand weg. Volkonskoye, rund dreihundert Kilometer südlich von Moskau, in einer der wirtschaftsstärksten Regionen Russlands. Erst recht zieht Swetlana Nilowa nicht von hier weg. Sie hat sich hier ihren Traum erfüllt. Die Fabrik ist mein viertes Kind, sagt die dreifache Mutter aus Moskau. Die Fabrik, das ist Milch, Joghurt, Butter, Quark, Mozzarella. In einem Land, wo Masse, schneller Gewinn und Gepansche oft zu den goldenen Regeln des Business zählen, ist Swetlanas Motto: Lieber weniger, aber dafür besser. "Das habe ich von Europa abgeguckt, wie von Generation zu Generation dieser Fleiß weiter gegeben wird. Ich bin der Perestroika so dankbar, als unsere Grenzen geöffnet wurden und unsere Augen geöffnet wurden und wir die übrige Welt sahen."
In den turbulenten Neunzigern bekam die studierte Ingenieurin einen Kredit aus der Schweiz. Jetzt hat sie einen Familienbetrieb, der floriert. Mitten in der Rezession. "Jede Krise gereicht Russland zum Wohl. Je schwerer es die Russen haben, desto mehr reißen sie sich zusammen. Dann können sie Berge versetzen. Geht es ihnen gut, lassen sie sich gehen, trinken, amüsieren sich. Stoßen die Russen auf Probleme, verlieren sie ihren Job – schalten sie ihr Gehirn ein, und denken zweimal schneller!", erzählt Swetlana.
Mit staatlicher Unterstützung zum Erfolg
Ein paar Kilometer weiter. Noch eine Fabrik. In einem neuen Klinkerhaus. Von hier kommen Russlands beste Pelmeni, prämierte Teigtaschen, die in keiner russischen Küche fehlen. Swetlana Mijaskovskaja und ihr Mann hatten keine einzige Kopeke, als sie anfingen. Nur staatliche Unterstützung. Die Krise sei doch das Beste für all jene, die was schaffen wollen, meint sie. "Man musste uns einen Anstoß geben, damit wir uns alle erheben und die Dinge im Land anpacken. Wissen Sie, ich liebe die Chinesen. Wenn die was sehen, machen sie es bei sich nach. Wir sollten auch so weitsichtig sein wie die Chinesen."
Fair, ehrlich, familiär – so führe sie ihre Firma. Diese Eigenschaften habe Swetlana Mijaskovskaja ihrer sowjetischen Jugend zu verdanken. Und dem Supermarkt, der ihre Pelmeni vertreibt, und die Milch und den Quark von Swetlana Nilowa. "Eine solche Kette ist heute schwer zu finden. Aber die Zukunft Russlands, das sind solche Supermarktketten. Alle Produkte sollten so natürlich sein wie bei denen", verlangt Swetlana Mijaskovskaja.
Wachstum in der Krise
"Wir lieben Russland" – einer der Slogans von Wkuswil, dem neuen Supermarkt, der sich auf Deutsch "Der Geschmack des Landes" nennt. Nahezu alles hier ist aus russischer Produktion, von Kleinbetrieben, ohne Chemie – so das Versprechen. Immer mehr solcher Läden erobern die zwölf-Millionen-Metropole Moskau. Wachstum in der Krise. In Zeiten, wo die Qualität dramatisch nachlässt. Und viele beim Essen sparen.
"Ich mag, dass es hier Naturprodukte gibt, alles frisch, natürlich, von Kleinbauern, das ist gut für die Kinder. Gut, dass es hier Menschen gibt, die so etwas wie diesen Laden gewagt haben. Und es geschafft haben. Ich wünsche mir mehr solche Menschen", sagen Kunden.
Russland muss der Welt mehr anbieten
Die Manager von Wkuswil: Alle Anfang, Mitte dreißig. Heute geht es in der Zentrale um Beschwerden. Nirgendwo ist es so leicht, bei Mängeln das Geld zurückzubekommen, sagen viele Kunden. Das Firmen-Motto: Natürlich. Ehrlich. Freundlich. Er hat die Kette aufgebaut: Andrej Krivenko, studierter Physiker, dann arbeitsloser Manager, dann Kleinunternehmer, jetzt leitet er über 2000 Mitarbeiter. Die Sanktionen Russlands gegen westliche Importe hätten seinem Geschäft natürlich geholfen, sagt Andrej. Aber nun müssten die Russen endlich lernen, der Welt mehr anzubieten als nur Öl und Gas.
"Wir haben ertragreiche Böden. Ihr Deutsche habt gute Autos. Aber so einen fruchtbaren Boden habt ihr nirgendwo, da kann Europa nur davon träumen. Unser Staat sollte sich darum kümmern, dass alle Deutschen russische Landwirtschaftsprodukte konsumieren. Das wäre die ganz normale Antwort darauf, dass wir mit euren BMWs und Mercedes fahren", Andrej Krivenko.
Der Mittelstand ist das Rückgrat des Landes
Wenn Russland ihrem Beispiel folge, dann habe sie nicht umsonst gelebt, sagt Swetlana Nilowa, die die Milch und den Käse für Wkuswil produziert. Der Mittelstand, die Kleinbetriebe – die seien doch das Rückgrat des Landes. Die Entwicklung der Wirtschaft – Swetlanas Hauptsorge. Die Unternehmerin ist Mitglied der Präsidentenpartei. Wladimir Putin? Ein standfester Präsident, sagt sie, der zuhören könne. Aber seine Partei müsse die Probleme anpacken, und nicht schweigen. "Niemand erwartet von den Parlamentswahlen Veränderungen. Viele wollen gar nicht wählen gehen. Denn die Mindestwahlbeteiligung wurde abgeschafft. Und das war nicht richtig! Manchmal äußern die Menschen ihren Protest ja dadurch, dass sie ihre Stimme nicht abgeben.
Also, viele wollen nicht wählen gehen. Niemand erwartet irgendwas Besonderes", erzählt Swetlana Nilowa.
Mittagspause bei Swetlana Mijaskovskaja, der Pelmeni-Lieferantin von Wkuswil. Sie hat gerade eine neue Teigtaschen-Sorte kreiert, mit Kräutern, Hühnchen und einem eigens für ihren Betrieb hergestellten Käse. Mit ihren Pelmeni hat sie den russischen Fleischer-Oscar gewonnen. Wählen gehen – das ist für sie so wichtig wie Spitzenqualität zu produzieren. "Klar gehen wir wählen, ich sage jetzt nicht wen, aber alle wissen´s, ihn muss man nicht mehr bekannt machen. Heutzutage unterstützen sogar die ganz Alten und die ganz Jungen die Politik Putins. Wir alle haben Gutes und Schlechtes. Aber mitunter sind wir selbst am Schlechten schuld, ehrlich gesagt." Zumindest für Ordnung habe er gesorgt, Wladimir Putin.
Autorin: Golineh Atai/ARD Studio Moskau
Stand: 12.07.2019 19:21 Uhr
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