So., 23.04.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Ayahuasca als Rauschmittel und Antidepressivum
Der säuerliche Saft eines Blattes als Heilmittel. "Blut des Waldes" nennen es die indigenen Huni Kuin. Wir sind unterwegs mit den Heilern der Huni Kuin, die gerade brasilianische Touristen durch ihr Territorium führen. Tourist Daniel Biasetto sagt: "Ich kann jetzt besser an den Rändern meines Blickfelds sehen und schaue mit mehr Klarheit umher." Der Pagé, der Medizinmann, kennt hier jede Pflanze. Eine nennt er "Tukan-Schwanz". "Sie hilft, wenn dein Hals entzündet ist. Als heißer Tee." Unter einem Hunderte Jahre alten Kapok-Baum zündet sich der Pagé einen Joint an – die Jüngeren spielen auf der Gitarre. Ein Lied für den Baum, den sie verehren.
Boom rund um die Ayahuasca-Pflanze
Im Dorf zeigt uns Häuptling Ibã Huni Kuin eine andere Pflanze: die Ayahuasca-Liane, die bei Indigenen und Spiritualität-Suchenden immer beliebter wird. "Die muss man mehrere Stunden kochen. Acht Stunden. Oder sogar einen ganzen Tag lang. Der Sud, der übrig bleibt ist das starke Ayahuasca, das dich nachts erleuchtet und auf Reisen schickt."
Es ist ein regelrechter Boom rund um die Ayahuasca-Pflanze entstanden – nicht nur hier bei den indigenen Einwohnern, die sich erst mit roter Farbe bemalen und sich danach einen Schluck des braunen Gebräus genehmigen. Für Erwachsene ein voller Becher. Für die Kinder – ab sechs Jahren – weniger als die Hälfte. "Mit Ayahuasca reinigen wir unsere Seele. Und wir lernen, was wir als Menschen geistig und seelisch erreichen wollen. In dieser Nacht wird uns das Licht der Schlange verzaubern. Grün, gelb und schwarz", sagt Häuptling Ibã Huni Kuin. Dann rezitiert Häuptling Ibã uralte, überlieferte Verse.
Wissenschaft: Großes Potenzial zu Behandlung von Depressionen
Tausende Kilometer weiter westlich beschäftigen sich auch Neurologen mit Ayahuasca. Draulio Araújo hat die Hirnaktivität im Ayahuasca-Rausch erforscht. Auch mit Menschen, die unter Depressionen leiden. Und er kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. "Unsere Forschung zeigt, dass es ein großes Potenzial gibt – vor allem bei der effizienten Behandlung von Depressionen durch psychoaktive Substanzen wie Ayahuasca. Sie ermöglichen eine schnelle Verbesserung des Zustands im Vergleich zu herkömmlichen Antidepressiva. Wir sehen Ayahuasca daher als ein mögliches Medikament bei psychischen Erkrankungen wie Depression, Ängsten, Posttraumatischen Belastungsstörungen – aber auch bei Drogenabhängigkeit – bei Konsum von Kokain, Tabak und Crack", sagt der Neurologe der Nationale Universität Rio Grande do Norte. Draulio erklärt, der Ayahuasca-Wirkstoff selbst erzeuge keine Abhängigkeit.
Nahe des Zuckerhuts in Rio de Janeiro ist die berauschende Pflanze Mittelpunkt religiöser Zeremonien. Beginn des Gottesdienstes in der Kirche "Santo Daime". Ayahuasca ist ihr heiliges Sakrament. In einem Ritual, das katholischen Glauben mit afrobrasilianischer Spiritualität und Natur-Religion vermischt. Frauen und Männer – streng getrennt – singen mehr als zehn Stunden lang Verse, die der Kirchengründer einst aufgeschrieben hat. Sie nennen es „Arbeiten“ an und mit der eigenen Psyche. "Wir trinken eine Substanz mit unglaublichen Kräften. Und lobpreisen die Erde bei diesem Fest für uns und alles Leben auf dem Planeten", erklärt Gabriel Holliver von der Kirche „Santo Daime”.
Huni Kuin: Wiederaufforstung dank Einnahmen von Touristen
Zurück bei den Huni Kuin: Sie wissen, dass der Ayahuasca-Rausch die eigenen Gedanken hinterfragt und sie sich selbst und ihre Gefühle anders wahrnehmen. Wenn die Touristen wollen, mehrmals in einer Nacht. "Ich nehmen alles viel feinfühliger wahr - alles, was im Wald passiert. Das Licht, die Geräusche – das Leben des Waldes", schildert Tourist Paulo Guimarães seine Erfahrungen. Sich zu übergeben bedeutet hier: Reinigung. Horrortrips hätten sie noch nicht erlebt, sagen die Huni Kuin.
Am nächsten Tag: Häuptling Ibã singt nochmal die Verse der Zeremonie. Sein Sohn malt ihre Bedeutung: Schlangen, Bäume, Naturgötter. "Die Verse sind älter als ich, älter als mein Großvater. Sie stammen aus den Urzeiten unseres Planeten – und stehen für unsere kulturellen Wurzeln und unsere Pädagogik", sagt Ibã Huni Kuin.
Ihre Bilder sind mittlerweile berühmt. Hängen in München, Chile und São Paulo in großen Museen. Für Ibã ist das auch ein einträgliches Geschäft: "Ich will mit den Einnahmen abgeholztes Land kaufen und aufforsten. Ich weiß, wie das geht und will damit einen Beitrag leisten." Ein Beitrag dank einer psychoaktiven Pflanze aus dem Urwald, die in Brasilien einen Boom erlebt.
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 23.04.2023 19:56 Uhr
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