So., 19.02.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Russland: Flucht aus der feindlichen Heimat
Für Russlands Präsident ist der Fall klar: Homosexualität und die LGBTQ-Community unterminieren moralische Normen, die ihm wichtig sind. Seit Jahren schürt Wladimir Putin Vorurteile gegen Minderheiten, um Feindbilder zu schaffen und seine Macht zu sichern. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine haben viele ihre Heimat Russland verlassen, weil sie sich als LGBTQ-Menschen plötzlich in einer feindlich gesinnten Umgebung wiederfanden. Nach einem Jahr Krieg geht dieser Exodus weiter.
Abendspaziergang durchs nächtliche Sankt Petersburg, ihr letzter. Abschied von einer der schönsten Städte der Welt. Hier haben Elle und Viktoria sich kennengelernt. Richtig geküsst haben sie sich in der Öffentlichkeit noch nie – zu gefährlich in Russland. "Ich hatte nie Angst", sagt Viktoria. "Aber Elle – total. Sie hat ja schon Angst gehabt, wenn ich sie bei der Hand genommen habe." „Ja", sagt Elle. Hier an der Kasaner Kathedrale hatten wir das erste Date, sie griff nach meiner Hand, und ich gleich: nein!"
Positiv über Homosexualität zu reden ist verboten
Im November hatten wir Viktoria schon einmal für einen Bericht interviewt. Sicherheitshalber so gefilmt, dass man sie nicht erkennt. Gerade erst war das Gesetz gegen sogenannte Propagierung von Homosexualität verschärft worden. Positiv über Homosexualität zu reden ist seitdem verboten. "Ich muss gar nicht auf Demos gehen – allein, wie ich lebe, gilt schon als Aktivismus. Das Gesetz ist wie eine Legitimation, uns angreifen zu dürfen. Niemand wird uns schützen, und niemand wird die Täter bestrafen. Wir werden wie vogelfrei sein", sagt Viktoria. Sie und ihre Freundin hatten damals längst Ausreisepläne. Wegen des Kriegs gegen die Ukraine, den sie für eine Katastrophe halten. Und wegen des anderen Kriegs – gegen den Feind im Inneren. Gegen Menschen wie sie.
Russlands zweite Front ist die gegen Oppositionelle, Andersdenkende, anders Lebende. Wer gegen traditionelle Werte steht, ist ein Feind. Kurz nach Russlands Einmarsch in die Ukraine hält Patriarch Kirill, eng mit Präsident Putin verbündet, im Anfang März 2022 eine Predigt. Der Ukraine-Krieg, LGBT und Pride-Märsche – für ihn hängt das alles zusammen: "Im Donbas lehnen sie diese Werte ab. Die sogenannten Werte jener, die nach der Weltherrschaft streben. Wer zu denen gehören will, muss auch Gay-Paraden abhalten. Es geht also um etwas viel Wichtigeres als um Politik. Es geht um die Rettung der Menschen."
"Das Level an Gewalt steigt"
Jetzt im Februar treffen wir Viktoria erneut. In ihrem Lieblingsbuchladen in Sankt Petersburg. Sie hat ein Visum für Großbritannien, ein Künstlervisum als Fotografin. Für sich und für Elle. Verstecken ist nicht mehr nötig - wenn dieser Film läuft, ist sie längst raus. Für immer, sagt sie: "Ich habe plötzlich verstanden, dass meine Beziehung zu meinem Land dieselbe ist, wie die eines Opfers von häuslicher Gewalt zur Familie. Ich hatte einen gewalttätigen Vater. Früher dachte ich, dass das überall so ist. Du denkst: 'Er schlägt ja nicht jeden Tag, und wo soll ich sonst hin?' So ist es auch mit dem Staat. Das Level an Gewalt steigt, und das verändert auch die Leute. Das zu ändern wird dauern."
Im Moskauer Sacharow-Menschenrechtszentrum eröffnen sie die allerletzte Ausstellung. Ein Gericht hat die Liquidierung des Zentrums verfügt. Auch die Erinnerung an den berühmten Sowjet-Dissidenten Andrej Sacharow ist jetzt nicht mehr erwünscht. Ein paar Diplomaten sind gekommen, und die letzten verbliebenen Menschenrechtler. Die alten, die nichts mehr zu befürchten haben. Und die die Mechanismen eines totalitären Systems noch kennen: Wenn es schwierig wird, braucht es einen inneren Feind. "Sie brauchen einen ständigen Feind, einen für die Masse. Homosexuelle, LGBT, eignen sich perfekt, weil sie hier in der Gesellschaft bei so vielen negative Emotionen wecken. Als Feind für die Masse funktioniert LGBT sogar besser als wir Menschenrechtler, wir sind den Leuten egal", sagt ein Teilnehmer der Ausstellungseröffnung.
Hunderttausende Russinnen und Russen verlassen ihr Land
Zwei Leben müssen in vier Koffer. In wenigen Stunden geht der Flieger. Direktflüge nach London gibt es nicht, wegen der Sanktionen. Es geht über Belgrad, Paris – und dann mit dem Zug bis nach London. Denn die Katze muss auch mit, und Großbritannien erlaubt die Einreise von Haustieren bei Flügen nur im Frachtraum – das wollten sie ihr ersparen. Mitten in der Nacht kommt das Taxi. "Jetzt hab ich nur eins im Kopf: den Flieger schaffen. Dass sie uns rauslassen aus dem Land, und dass alles gut wird", hofft Elle. "Rational habe ich jetzt doch Angst vor der Grenze. Dass sie uns festhalten. Wenn sie zum Beispiel mein Telefon sehen wollen, da sind Sachen drin, die nach unseren Gesetzen verboten sind", sagt Viktoria.
Elle und Viktoria sind zwei von Hunderttausenden Russinnen und Russen, die ihr Land seit Kriegsbeginn verlassen haben. Russische Exilmedien sprechen von mindestens einer halben Million. Die genauen Zahlen kennt niemand. Elle arbeitet in der IT-Branche, Viktoria schreibt und fotografiert. Zurück wollen die beiden nicht. Weil sich Russland, sagen sie, in unserer Lebenszeit nicht mehr zum Besseren ändern wird.
Autorin: Ina Ruck, ARD-Studio Moskau
Stand: 19.02.2023 19:51 Uhr
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