So., 11.02.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
USA: Die Schildkröten-Retter von Cape Cod
Es sind nur kleine Bewegungen, ein winziges Heben des Kopfes, eine minimale Regung von Flosse oder Auge, die zeigen: Diese Schildkröten leben. Doch werden sie überleben? "Wir müssen jede Schildkröte mit Respekt und Sorgfalt behandeln", erklärt Sasha Milsky, Schildkrötenretterin Naturschutzorganisation Mass Audubon. Und Edward "Ed" Filangeri, Piloten-Organisation Turtles Fly Too sagt: "Mir wird so warm ums Herz, denn ich weiß, dass ich einer bedrohten Tierart helfe. Und wir alles tun, damit sie nicht ausstirbt." Adam Kennedy, Leiter Schildkrötenkrankenhaus New England Aquarium, erklärt: "Die Schildkröten sind leider wegen unseres Verhaltens in dieser Lage. Ich fühle mich verpflichtet, diesen Tieren zu helfen."
Am Strand patrouilliert ein Netzwerk von Freiwilligen
In Massachusetts, an der Ostküste der USA, werden die Tiere angespült. Das Meer um die Halbinsel Cape Cod herum ist im Winter im Schnitt unter vier Grad kalt. Zu kalt für die Schildkröten, die sich in die Bucht verirren und im Wasser erstarren. Sasha Milsky nimmt mich mit auf ihre Patrouille. Wo genau die Schildkröten stranden, hängt von Wind und Strömung ab: "Manchmal nenne ich uns Schildkröten-Sanitäter. Wir sammeln sie ein und versuchen, sie am Leben zu erhalten. Ohne uns würden hier jedes Jahr etwa 900 gestrandete Meeresschildkröten an der Küste von Cape Cod sterben."
Am Strand patrouilliert ein Netzwerk von Freiwilligen. Auf etwa 100 Kilometern Küste können die Schildkröten angetrieben werden – abhängig unter anderem von der Windrichtung. An diesem Morgen suchen die Freiwilligen etwa 30 Kilometer Strand ab. Finden sie Schildkröten, rufen sie Sasha an: "Es sollten drei Schildkröten sein, nach denen wir suchen, richtig? Neben der einen, die wir schon gefunden haben", sagt Sasha. Um möglichst schnell möglichst viele Tiere vor der Kälte zu retten, hat Sasha ihren Schlitten dabei. Immer wieder bringt sie neue Schildkröten zum Auto. Dort ist es windgeschützt und wärmer als am Strand.
Viele Schildkröten schweben in Lebensgefahr
Mit dem Auto bringt Sasha die Schildkröten in eine Auffangstation. An diesem Tag finden sie 25 Tiere. Gemeinsam mit ihrem Team untersucht sie die Schildkröten: messen, wiegen, Wunden dokumentieren. Manche sind so starr, dass schwierig zu erkennen ist, ob sie noch leben. "Es kann überwältigend sein. Manchmal kommt jede Minute eine Schildkröte an. Neulich hatten wir 88 an einem Tag", erzählt Sasha.
Viele der Schildkröten schweben in Lebensgefahr. Sie brauchen dringend Medizin. Die bekommen sie im Schildkröten-Krankenhaus in der Nähe von Boston. Wenn die Tiere ankommen, müssen die Helfer und Helferinnen schnell entscheiden: Welche Schildkröte braucht sofort Hilfe? Welche kann warten? "Für die Schildkröten zählt jede Sekunde. Das kann sehr, sehr stressig sein", sagt Adam Kennedy, Leiter des Schildkrötenkrankenhauses New England Aquarium. Er misst den Herzschlag dieses neuen Patienten. Normalerweise liegt der bei etwa 35 Schlägen pro Minute. "Diese hat eine Herzfrequenz von elf. Das ist langsam. Aber wir sehen hier schlimmere Fälle. Wenn die reinkommen, haben sie oft eine Herzfrequenz von einem oder zwei Schlägen pro Minute."
Sasha und die Freiwilligen am Strand verstehen sich als Ersthelfer, das Team um Adam als Notaufnahme. Die Tiere bekommen eine Nummer und Patientenakte, einen Therapie-Plan und regelmäßige Untersuchungen. Auf Röntgenbilder können die Ärztinnen Lungenentzündungen erkennen. Eine Schildkröte hat einen gebrochenen Panzer – verursacht durch ein Motorboot, vermuten sie. In den 1970er-Jahren wurden erstmals Schildkröten an den Stränden von Cape Cod gefunden. Mittlerweile sind es mehrere Hundert, in knapp zehn Jahren könnten es mehrere Tausend sein. Ein Grund für die steigenden Zahlen: Wegen des erfolgreichen Artenschutzes schlüpfen mehr Schildkröten. Der andere: Vermutlich der Klimawandel, sagt Adam Kennedy: "Der wichtigste Faktor ist, dass der Golf von Maine viel wärmer ist als früher. Normalerweise ist das Wasser sehr kalt. Es zwingt die Schildkröten im Golfstrom nach Süden zu ziehen. Durch das wärmer werdende Wasser können die Schildkröten in die Bucht kommen. Im Sommer geht es ihnen sehr gut. Aber dann kommt der Winter und sie kommen nicht mehr weg."
Breites Netzwerk sichert Überleben der Schildkröten
Die sichelförmige Bucht von Cape Cod ist nicht der einzige Ort, an dem Schildkröten stranden. Aber hier wird der Platz über den Winter knapp. Um in den Becken Platz zu schaffen, heben die Tiere, wenn sie fit genug für den Transport sind, ab. Dafür sorgen Piloten wie Ed Filangeri von der Piloten-Organisation Turtles Fly Too. Ob es nicht absurd sei, vom Klimawandel bedrohte Schildkröten mit Flugzeugen zu transportieren, will ich wissen. "Sie sind sehr krank. In Autos ist es schwierig, ihre Temperatur auf langen Fahrten zu kontrollieren. Man hat mir gesagt sie würden sterben, weil fahren einfach zu langsam wäre."
Ed ist eigentlich Zahnarzt. Er fliegt die Schildkröten in seiner Freizeit für eine Freiwilligenorganisation in Aquarien im ganzen Land und dorthin, wo sie ausgewildert werden können. Er sei sich nicht sicher, ob der Klimawandel menschengemacht sei, erzählt er mir auf dem Flug. Aber: "Es ist unsere Pflicht als Gäste auf diesem Planeten. Jeder von uns ist nur für kurze Zeit hier – wir alle. Es ist unsere Pflicht, so wenig Schaden wie möglich anzurichten und anderen Arten zu helfen, die dazu selbst nicht in der Lage sind."
Dass die Schildkröten kalt erstarrt stranden, lasse sich laut der US-Wetter- und Meeresbehörde nicht verhindern. Ihre Ausrottung schon. Ihr Überleben hängt auch ab von dem Netzwerk aus Ersthelfern, Aquarien und vielen Freiwilligen wie Ed.
Autorin: Sarah Schmidt, ARD-Studio Washington
Stand: 22.02.2024 14:40 Uhr
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