So., 07.04.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine – Wo beginnt die Frühjahrsoffensive?
Zuhause ist es für Natalija Schkafenko und ihre Enkelin Daniela zu gefährlich geworden. Sie kommen aus Welyka Pyssariwka. Einer Siedlung in der Region Sumy, ganz im Nordosten der Ukraine. Und ganz nah dran an Russland. "Als sie angefangen haben, uns mit Gleitbomben zu beschießen, mussten wir einfach weg. Ansonsten haben wir uns schon daran gewöhnt, dass sie jeden Tag auf uns schießen. Wir sind dann immer in der Keller gelaufen. Jetzt ist da nichts mehr." Russland hat viele Häuser in ihrem Ort vollständig zerstört. So wie hier, sieht es auch an anderen Orten in Sumy aus. Keine andere Region der Ukraine hat eine so lange Grenze zu Russland: mehr als 500 Kilometer.
Natalija und ihre Enkelin wurden wie Tausende andere Menschen auf sicherere Orte verteilt. Doch was, wenn russische Truppen weiter vorrücken sollten? "Diese Befürchtung gibt es. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil es wieder mehr Gerüchte gibt, dass es eine neue Offensive geben wird. Dann müssen wir etwas tun, weil sie hier sicher nicht halt machen werden", sagt Natalija.
Jeden Tag Angriffe der Russen
Russland greift weiter jeden Tag verschiedene Regionen der Ukraine an. Nahezu ständig treffen Raketen und Drohnen Wohngebiete in der Millionenstadt Charkiw. Wie hier in Saporischschja beschießt Russland dieselben Orte zwei Mal kurz nacheinander. Der sogenannte Double Tap gilt als Taktik, um Retter und Journalisten zu treffen. Für mehr Schutz braucht die Ukraine dringend mehr Flugabwehrsysteme, sagt Mykola Beleskow, Militäranalyst der Stiftung "Come Back Alive". Er gilt international als einer der renommiertesten Analysten des russischen Angriffskriegs: "Das zentrale Dilemma ist – und wir stehen ja gerade in Kyjiw: Schützt du die großen Städte oder die eigentlichen Bodentruppen. Und dieses Dilemma nutzt Russland leider gegen die Ukraine aus."
Russland führt einen Krieg gegen den Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer, zerstört im ganzen Land Energieinfrastruktur. An der Front rücken russische Truppen Meter um Meter vor. Um Soldaten und Zivilisten zu schützen, reicht die Flugabwehr nicht aus. Und: Russland greift verstärkt mit Gleitbomben an. Diese Bomben haben Flügel und können nach dem Abwurf aus sicherer Entfernung ihr Ziel erreichen. Ohne Flugabwehr, wie die Patriot-Systeme, ist es unmöglich, solche Angriffe abzuwehren. "Die Russen haben sich für den Angriff entschieden, weil sie mehr Munition für Raketen-Systeme und Artillerie haben. Außerdem setzen sie, wie wir sehen, zunehmend Lenkflugkörper verschiedener Typen ein. Allein im ersten Quartal dieses Jahres wurden nach offiziellen Angaben mehr als 4.000 Lenkflugkörper entlang der Frontlinie eingesetzt", erklärt Beleskow.
Die Ukraine setzt auf Verteidigung und baut verstärkt eigene Befestigungsanlagen aus. Die Zeit drängt: Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, rechnet noch im Frühjahr mit einer weiteren russischen Offensive. Sie werde sich auf den Donbas fokussieren, sagt Budanow im Exklusiv-Interview mit der ARD. "Sie werden irgendwo etwas näher an Tschasiw Jar heranrücken. Sie werden sich in Richtung der Stadt Pokrowsk bewegen, in die strategische Richtung Pokrowsk. Um zu sagen, dass sich etwas dramatisch ändern wird: nein. In diesen zwei Monaten wird nichts passieren. Sie werden ihre Aktionen Anfang Juni beginnen, wie wir erwarten. Ende Mai, Anfang Juni. Ich denke, wir werden relativ gut darauf vorbereitet sein, und dann werden wir sehen, wie es weitergeht."
Ukraine fehlt es an Waffen und Soldaten
Ein verstärkter Nachschub von Munition sei trotz europäischer Initiative an der Front noch nicht angekommen, sagt Budanow. Die ausbleibende US-Unterstützung bleibt ein gewaltiges Problem. "Ohne Hilfe wird es für uns katastrophal schwer. Aber erstens: Diese Hilfe kommt, wenn auch nicht in ausreichendem Maße. Und zweitens: Sie wird auch weiter kommen." Konkret bekräftigt der Militärgeheimdienst-Chef ukrainische Hoffnungen auf Lieferungen von Marschflugkörpern des Typs "Taurus" aus Deutschland. Damit könne man Russland effektiver zurückdrängen. "Um Kommandozentralen zu treffen, um einige sehr wichtige Ziele zu treffen, ist es eine ausgezeichnete Waffe."
Der Ukraine fehlt es nicht nur an Waffen, sondern auch an Soldaten. Auch deshalb hat Präsident Selenskyj das Einzugsalter von Männern von 27 auf 25 herabgesetzt. Die Armee muss Verluste ausgleichen und erschöpften Soldaten die Rotation ermöglichen. Dafür müssten Hunderttausende Männer mobilisiert werden, schätzen Experten. "Die Menschen verstehen, dass wir einen ernsten Mangel an schweren Waffen und Munition haben, und sie verstehen, dass sie das mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit kompensieren müssen. Das macht es schwieriger, Menschen zu gewinnen. Wenn unsere Partner also Fortschritte bei der Mobilisierung sehen wollen, müssen sie verstehen, dass es leichter sein wird, Menschen für die Sicherheits- und Verteidigungskräfte zu rekrutieren, je mehr Munition und schwere Waffen die Ukraine hat", sagt Militäranalyst Beleskow.
Waffenlieferungen geben vielen Menschen in der Ukraine ein größeres Gefühl der Sicherheit. Und sie geben flüchtenden Familien, wie der von Natalija Schkafenko, die Hoffnung auf ein schnelleres Ende des Krieges. "Ich würde am liebsten jetzt schon wieder nach Hause. Wenn wir schneller wieder Strom und Gas hätten und diese massiven Angriffe aufhören würden, wäre ich längst wieder Zuhause. Selbst wenn es keine Arbeit und keine Menschen gibt und man nichts verdienen kann, will ich trotzdem nach Hause." Wieder Zuhause leben, friedlich und sicher. Das ist es, was sich Ukrainerinnen und Ukrainer sehnlich wünschen.
Autoren: Vassili Golod und Kateryna Rusetska, ARD-Studio Kiew
Stand: 07.04.2024 19:27 Uhr
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