So., 02.03.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Belgien: Ehevermittlung per Gentest
Sie singen Psalme und loben den Herrn: Väter, Mütter und Kinder feiern auf den Straßen von Antwerpen die neue Thorarolle. Das Herzstück jeder Synagoge und jedes Gebetsraums – die fünf Bücher Mose.
Ein wohlhabender Diamantenhändler hat sie in Auftrag gegeben. Jedes Gemeindemitglied durfte eines der letzten Worte selbst hineinschreiben. Wäre nur ein Federstrich verwischt, hätten sie von vorne beginnen müssen. Zwei Monate Arbeit wären vernichtet.
Jossi Weiss, Diamantenhändler:
Seine Frau und er haben sich an diesen göttlichen Befehl gehalten: Sie haben sechs Kinder. Sie leben nach den Gesetzen der Thora. Aber sie glauben auch an die moderne Naturwissenschaft: Deswegen haben sie vor der Ehe ihr Blut untersuchen lassen - auf genetische Defekte.
Chomi Weiss:
Mann und Frau dürfen nicht das gleiche defekte Gen in sich tragen, denn dann würden ihre Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Erbkrankheit leiden. Einige besonders schwere kommen bei Juden überdurchschnittlich häufig vor. Das genaue Ergebnis der Untersuchung erfahren die Paare nicht – sie bekommen nur eine Codenummer.
Jossi Weiss:
Die Nachfahren aus dem Schtetl leben heute über die ganze Welt verteilt. Auch Chomi aus New York hat osteuropäische Vorfahren.
Chomi Weiss:
Die Heiratsvermittlerin ließ Jossis und Chomis Nummern abgleichen – das Ergebnis: Die beiden müssen sich keine Sorgen um Erbkrankheiten machen – sie durften heiraten.
Chomi Weiss:
Jossi Weiss:
Wenn eine Heirat unter orthodoxen Juden geplant ist, wird fast immer vorher in Brooklyn in den USA angerufen: ein Rabbiner hat dieses System vor 34 Jahren entwickelt. Vier seiner Kinder sind gestorben an einer sehr seltenen, immer tödlich verlaufenden Erbkrankheit, Tay Sachs. In New York soll fast jeder sechste orthodoxe Jude Überträger sein.
In der Zentrale von Dor Yeshorim, übersetzt heißt das „Geschlecht der Frommen“, sind die Testergebnisse von hunderttausenden Juden aus aller Welt gespeichert.
Zurück in Belgien: Auch im Laboratorium des Antwerpener Universitätsklinikums werden besonders häufig Blutproben jüdischer Patienten untersucht:
Bettina Blaumeiser, Genetikerin Universitätsklink Antwerpen:
Dr. Rosenblum nimmt in seiner Praxis immer wieder jungen Patienten Blut für den Gentest ab. Eine Sache von Minuten, die das ganze Leben ändern kann.
Dr. Martin Rosenblum, Allgemeinmediziner:
Der Umzug durch Antwerpen endet am Gebetsraum – im Haus von Dr. Rosenblum. Jeder von ihnen hat sich testen lassen. Die meisten kennen ihr Ergebnis nicht im Detail. Sie wollen es nicht wissen, wollen nicht das Gefühl haben, womöglich schlechte Gene in sich zu tragen. Aber es gibt immer mehr, die das anonyme Zahlensystem in Frage stellen. Sie wollen nicht Codenummern, sondern Liebe über das Lebensglück entscheiden lassen.
Dr. Martin Rosenblum, Allgemeinmediziner
Jossi Weiss:
Tiefe Gläubigkeit und moderne Wissenschaft – Romantik und abgeklärtes rationales Verhalten – irgendwie muss das alles zusammenpassen. Ein jüdischer Mann soll eine jüdische Frau heiraten, um gesunde jüdische Kinder in die Welt zu setzen.
Gott ins Handwerk pfuschen – nein, das wollen sie nicht. Im Gegenteil: sie sehen es als sein Gebot, menschliches Leid zu verhindern.
Autor: Michael Heussen
Stand: 15.04.2014 10:45 Uhr
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