So., 10.02.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Istanbul: Millionenmetropole im Modernisierungswahn
Die Geschäfte des Umzugsunternehmers laufen gut: Hasan Özkara kann regelrecht greifen, wie sich seine Heimatstadt Istanbul verändert - und das tagtäglich. An bis zu sieben Tagen in der Woche führt Hasan Özkara Umzüge durch; größere und kleinere, mit dem Hab und Gut von Reichen und Ärmeren. Ist alles verpackt, geht es auf Fahrt durch die 15-Millionen-Stadt am Bosporus, und die kann schnell mal mehrere Stunden dauern…
Hasan Özkara, Umzugsunternehmer:
"So viele Aufträge wie in letzter Zeit hatte ich noch nie. Der Grund ist, dass die Reichen ganze Stadtviertel erobern und die Armen verdrängen. Na ja, für mein Geschäft ist das natürlich gut!“
Sozusagen der "Arbeitsplatz" von Hasan Özkara: Istanbul die 2392 Quadratkilometer große Stadt im Baurausch; seit zehn Jahren die wachstumsstärkste Region Europas. Hier gilt: Immer höher, immer schneller, immer weiter. Es wird gebaut und gebaut - Gründerzeit a la turka…
Und: Die Rekordjagd in Beton und Glas kennt keine Grenzen: So soll schon 2017 – möglicherweise also noch vor dem Berliner Airport – Istanbuls dritter Flughafen eröffnen: Er soll zum größten Luftverkehrsdrehkreuz der Welt werden.
Die wirtschaftlich explodierende Stadt aber steht auf wankendem Grund – Istanbul ist von Erdbeben bedroht, da ist sich die Fachwelt einig. Die Politik will deshalb bessere Bausubstanz. Doch dabei geht es auch um Geld – viel Geld…
Mücella Yapici, Architektenkammer Istanbul:
"80 bis 90 Prozent der türkischen Wirtschaft hängen vom Bausektor ab. Da herrscht natürlich Druck. Und: Das internationale Finanzkapital hat Istanbul in den Fokus genommen, es gilt als Top-Anlage-Standort!“
Bilder aus einem Istanbul vor dem Boom: Sulukule. Sulukule war das wohl berühmteste Roma-Viertel der Welt, ein Muss für jeden Istanbul-Touristen. Schon zu byzantinischer Zeit hatten hier Roma gelebt. Vor vier Jahren aber wurde das zentral gelegene Sulukule mit seiner maroden Bausubstanz geräumt.
Heute ist das Viertel nicht wieder zu erkennen, das alte Leben verschwunden, die neu entstandenen Luxuswohnungen burgartig abgeschirmt.
Wir haben uns auf Suche nach den Vertriebenen von Sulukule gemacht: Nach zwei Stunden Fahrt werden wir am Stadtrand fündig: In Tasoluk hat man Wohnraum für sie geschaffen. Doch viele Wohnungen stehen leer.
Ein ehemaliger Bewohner von Sulukule:
"Viele konnten sich das hier einfach nicht leisten, die Raten und die Mieten nicht bezahlen. Sie sind gegangen, weil es hier keine Arbeit für sie gab. Ich werde auch gehen, ich halte es hier einfach nicht mehr aus.“
Hasan Özkara auf dem Weg nach Fikirtepe, einem aktuellen Hotspot der Gentrifizierung in Istanbul, ein Viertel im Umbruch oder besser im Abbruch.
Fikirtepe, noch Heimat für 70.000 Menschen: Das älteste sogenannte "Gecekondu-Gebiet" Istanbuls. "Gecekondu" heißt "über Nacht und ohne behördliche Genehmigung gebaut“. 15.000 Gebäude werden hier abgerissen. Viele davon sind alles andere als erdbebensicher. Auch bei Fikirtepe handelt es sich um eine "bevorzugte Stadtlage." Nach dem Neuaufbau werden hier andere Menschen leben, als bisher.
Ein Bewohner von Fikirtepe:
"Hier entstehen regelrechte ‚Residenzen‘mit Swimmingpools und Personal. Die High-Society wird kommen. Wer kann sich das leisten? Wir werden umziehen müssen, hinaus aus der Stadt.“
Eren Pirol hat sein ganzes Leben hier in Fikirtepe gelebt. Jetzt ist es ein Leben auf Abruf. In ein paar Tagen muss er sein kleines Teehaus räumen.
Eren Pirol:
"Ich weiß nicht wohin, denn hier in der Nähe finde ich nichts Bezahlbares. Was soll nur aus uns werden?“
Der heutige Umzugsauftrag führt Hasan Özkara nach Balat, ein alter Bezirk direkt am Goldenen Horn. Balat war einst das jüdische Viertel Istanbuls, früher eine wohlhabende Gegend. Viele Juden sind von hier nach Israel ausgewandert. Ihnen folgten vor allem Zuzügler aus dem Schwarzmeergebiet. Immer mehr kamen, immer voller wurden die Wohnungen: das Viertel verkam. Dabei hat die Bausubstanz hier viel Charme.
Balat gilt heute als beste Lage. Nur zu gerne würde die Stadtverwaltung die ungeliebte, weil eher arme Bewohnerschaft auswechseln.
Ibrahim Güntekin wurde hier geboren. Er kämpft gegen Pläne der Stadtverwaltung Balat am Denkmalschutz vorbei per Bulldozer in eine "schöne neue Welt" zu verwandeln.
Ibrahim Güntekin, Bürgerinitiative Balat:
"Offiziell lässt man die Leute hier seit Jahren nichts restaurieren. Dabei wären einige Bewohner durchaus bereit, Geld dafür aufzuwenden. Und auf diese Weise gehen die Häuser endgültig kaputt, wie sie sehen. Dahinter steckt ein Plan!“
Wachstum contra Gewachsenes, Business statt Denkmalschutz - keine Seltenheit im Istanbul dieser Tage, der Boom-Town am Bosporus… Doch auch hier scheinen die Bäume nicht in den Himmel zu wachsen…
Mücella Yapici, Architektenkammer Istanbul:
"Allein in Istanbul hat sich inzwischen ein Leerstand von 800.000 Wohnungen aufgebaut. Das deutet auf eine sich anbahnende Krise auf dem Immobilienmarkt hin.“
Noch aber laufen sie blendend die Geschäfte von Hasan Özkara. Manchmal erscheint es ihm so, als wäre die ganze Megastadt pausenlos in Bewegung. So geht ihm die Arbeit nicht aus.
Hasan Özkara, Umzugsunternehmer:
"Die Reichen ziehen immer mehr ins Zentrum und in die Wolkenkratzer, und die Armen können sich Istanbul immer weniger leisten und müssen hinaus.“
So ist die inzwischen zehnjährige Erfolgsgeschichte der Stadt am Bosporus nur eine für einen Teil der Gesellschaft und sie lässt in Istanbul buchstäblich keinen Stein auf dem anderen …
Autor: Michael Schramm, ARD Istanbul
Stand: 22.04.2014 14:08 Uhr
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