So., 18.06.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Jahrzehntelanger Raubbau am Amazonas-Regenwald
Über Jahrzehnte hat der Weltspiegel über das Verschwinden des Amazonas Regenwalds berichtet. Die Geschichte beginnt mit riesigen Goldminen im Regenwald. Eine große Straße mitten durch das Gebiet besiegelte das Schicksal der Region. Heute ist der Siedlungsdruck so groß auf die Lunge der Welt, dass sie wahrscheinlich auch durch massives Aufforsten nicht mehr zu retten ist.
Der Traum vom Gold lebt weiter
"Das hier scheint ein idyllischer Urwald zu sein. Aber: Vor 40 Jahren war hier die Hölle los", berichtet ARD-Korrespondent Matthias Ebert. Serra Pelada – heute ein geflutetes Loch. In den 1980er Jahren waren die Weltspiegel-Korrespondenten hier auf die wohl ungeheuerlichste Goldmine der Welt gestoßen. Und berichteten schon damals über den Beginn der Zerstörung des Amazonas-Urwaldes. Die Reportage im Weltspiegel über den Goldrausch klang damals so: "Vor zwölf Monaten noch stand hier ein bewaldeter Berg, bis jemand an dieser Stelle Gold entdeckte, bis im Nu zigtausende von Händen anfingen mit Buddeln, Wühlen, Graben, Hacken, Sieben und Waschen. Das alles für meist stecknadelkopfgroße Goldkörner. So mag Sklavenarbeit im Altertum ausgesehen haben." Sie alle hofften auf schnellen Reichtum. "17.000 Goldsucher – Garimpeiros heißen sie hier." Von den 17.000 sind heute nur noch ein paar übriggeblieben.
Ich treffe Etevaldo und Luis. Sie haben als junge Männer erlebt, wie schnell man hier ein Vermögen machen konnte. "Ein Kumpel hat 5.000 Kilo Gold gefunden", erzählt Etevaldo da Cruz Arantes von der Goldgräbergewerkschaft Serra Pelada. "Ich hab das gesehen. Die fünf Tonnen hat er in zwei bis drei Monaten aus dem Berg geholt." Das Fieber lodert noch immer, es sei wie eine Sucht. Sie stellen mir Chico Osorio vor. Der sei früher reich gewesen. "Sie sagen, Du hast ein Flugzeug besessen" "Zwei sogar", sagt Goldgräber Chico Osorio. "Und?" "Mit einem bin ich abgestürzt, das andere hat ein Geschäftspartner geklaut. Das ist nie wieder aufgetaucht. Es gab ja damals kein GPS." Neben seiner Hütte gräbt er nach seltenen Metallen wie Niob. Drinnen nach Gold. So wie früher. Heimlich, denn der Gold-Abbau ist heute verboten. Deshalb hat Chico dieses Loch gegraben. 30 Meter tief. "Du findest hier noch immer Gold?" "Ja ... Mit einer Pumpe finde ich auch Palladium." Reich ist Chico trotzdem nicht geworden. Deshalb gräbt er weiter – einen anderen Job hat er nicht. Der Traum vom Gold – er lebt weiter hier in der Serra Pelada. Auch wenn das alles hier schon längst dicht ist, aber: Überall in Brasilien gibt es zehn-, hunderttausende Goldgräber. "Das wird wohl nie aufhören, oder?" "Nein, nie."
Amazonas-Urwald: Erschließung bedeutet Zerstörung
Die Wunden im Amazonas werden immer mehr. Es geht um Eroberung und Ausbeutung. Seit 1972 in ganz großem Stil. Wohl kaum etwas hat die Zerstörung des Amazonas derart vorangetrieben wie diese eine Straße bei deren Bau der Weltspiegel 1974 vor Ort war: "Die Transamazônica: eine 6.400 Kilometer lange Verbindung zwischen dem atlantischen und dem pazifischen Ozean. Wer das Land verteidigen will, muss Nachschubwege bauen. Die Armee tut es, mitten durch den Urwald. Tausende von Kilometern. Pisten und Rollbahnen. Straßenbau – das ist Fortschritt, Zukunft. Die Regierung in Brasilia sagt, das diene zuvörderst der nationalen Integration, der Erschließung des Landes und seiner Besiedlung. Im Fall des Amazonas-Urwaldes bedeutet Erschließung Zerstörung. So fressen sich die Schneisen immer tiefer in die letzten unzerstörten Naturreservate – in die tropischen Regenwälder nördlich und südlich des Äquators."
Der Weltspiegel erinnerte schon damals daran, dass auch wir auf der Nordhalbkugel für die Abholzung mit verantwortlich sind. "So ist das Holz, das hier lagert, für Europa bestimmt. Holzverkleidungen für Partykeller in Hamburg und München. Edelhölzer für Europa, Bauholz für Japan, Zellulose für die USA. Es ist die eine Bestimmung des Urwaldes. Früher brauchten zwölf Männer einen Tag, um mit der Axt einen Baum zu fällen. Heute zwei mit der Motorsäge fünf Minuten." Der Amazonas wird erobert, zerstört – seit Jahrzehnten. Angeschlossen an den globalen Warenverkehr. Rohstofflieferant.
Abholzung des Regenwalds ist kaum zu stoppen
"Die Regierung transportiert immer mehr Menschen in das Siedlungszentrum von Altamira", so der Weltspiegel damals. Als der Weltspiegel Altamira – an der Transamazônica – in den 70er Jahren besuchte, war es ein Dorf. Heute leben hier knapp 300.000 Menschen – mitten im Amazonas. Die Bevölkerung ist förmlich explodiert. Eine der Familien, die von der damaligen Militärregierung hier angesiedelt wurde, ist die von Joãozinho und Rosalia. Eine Großfamilie. Rosalia hat elf Geschwister. Das sei völlig normal bei den Siedlerfamilien, die seit den 70ern hier ankommen. "Meine Eltern haben nicht aufgepasst. Das war normal. Deswegen haben sie viel Nachwuchs gemacht. Meine Eltern haben zwölf Kinder und mehr als 40 Enkel. Die Urenkel können wir nicht mehr zählen."
Rund um Altamira wächst die Rinderzucht, der Sojaanbau und die Zahl der Straßen und Brücken. Wasserkraft. Die Brände nehmen zu. Und: der Goldabbau. "Mehr Züge, mehr Soja, mehr Bergbau, mehr Menschen: Ich bin pessimistisch – wenn nicht gar hoffnungslos, was den Amazonas betrifft, wie viele meiner Weltspiegel-Vorgänger", meint Matthias Ebert. "Die Abholzung irgendwann zu stoppen? Kaum realistisch."
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 18.06.2023 21:58 Uhr
Kommentare