Mo., 01.08.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Brasilien: Besetzte Schulen
Schüler Carlos kämpft für seine Ausbildung. Lehrer Fabio für ein Gehalt zum Überleben. Und Isabela träumt von einer Schule, die nicht in Trümmern liegt.
Ein paar Minuten haben wir nur zum Filmen in der Favela Cachoeira Grande im Norden Rios. Ihr könnt schon mitkommen sagen Carlos und seine Freunde, aber lange dürft Ihr Euch mit der Kamera hier nicht aufhalten. Zu riskant für Euch Ausländer. Carlos kommt sowieso nur schnell nach Hause, um ein paar frische Sachen zu holen. Seit Monaten schläft er nicht mehr daheim, sondern übernachtet in seiner besetzten Schule. Seine Mutter Rosanna Osorio de Faria arbeitet für einen Cateringservice. Eigentlich ist sie Lehrerin, aber das Gehalt reichte nicht für sie beide. "Ich wünsche mir für Carlos eine wirklich gute Schulbildung. Aber die Schulen heutzutage verdienen den Namen ja kaum", sagt sie.
Geld für Olympia, aber nicht für Schulen
Dabei sieht die Fassade gut aus, am Gymnasium Amaro Cavalcanti im Stadtzentrum. Doch innen: SOS-Bildungsnotstand – seit vier Monaten läuft der Schulbetrieb auf Sparflamme. Lehrer streiken für mehr Gehalt und Schüler halten aus Protest einen Teil des Gebäudes besetzt. Seit April campieren sie hier, Putzdienst ist eingeteilt und jeder hat seinen persönlichen "Kleiderschrank". Fabio de Barros Pereira macht alternativen Soziologieunterricht beim Mittagessen. Die Schüler regen sich auf: Für Olympia-Stadien hat der Staat genügend Geld, aber bei uns gibt’s zu Mittag nur Bohnen und Reis, die sanitären Anlagen sind mies, Fremdsprachenunterricht Fehlanzeige.
Die Schulbesetzer
"Wir haben diesen Teil der Schule besetzt, weil wir für bessere Bedingungen kämpfen", sagt Schüler Carlos De Faria Neto "Ein bisschen was haben wir schon erreicht. Und andere Schulen sind solidarisch."
"Die Zustände sind katastrophal: Wir haben kaum Unterrichtsmaterial, keinen Hausmeister, keine Putzfrauen mehr und die Essensrationen wurden gekürzt. Es wird immer schlimmer", erläutert der Lehrer Fabio de Barros Pereira. Die Nerven liegen blank bei der Lehrergewerkschaft. 500 Euro im Monat – wer soll davon leben? Vor allem wenn das Gehalt selten kommt, weil der Bundesstaat Rio pleite ist. Fabio und seine Kollegen beschließen jetzt, den Streik zu beenden. Denn nach vier Monaten mit Gehaltskürzungen geht Ihnen endgültig das Geld aus.
Unterrichtet wird in drei Schichten
Vorbei am berühmten Maracana-Stadion, schon vor der Fußball-WM für 400 Millionen Euro umgebaut. Und auch für Olympia hat sich Rio ins Zeug gelegt. Carlos bringt uns zu einer anderen Schule in der Nähe seiner Favela.
Unterricht findet in Rio in drei Schichten statt, morgens mittags abends, sonst reichen die Klassenzimmer nicht. Nackte Wände, kaputte Ventilatoren und die Beleuchtung, naja. Im Sommer, sagt Isabella da Costa, ist die Hitze im Klassenzimmer unerträglich. "Ich komme nicht gerne in den Unterricht. Diese Schule zieht einen nicht an, wenn die Freunde nicht wären, wär‘s nicht auszuhalten."
"Der Sportplatz darf nicht mehr benutzt werden, ihr müsst aufpassen", sagt sie. "Ab hier ist alles einsturzgefährdet. Bio- und Chemielabor sind nur noch Ruinen. Es fehlt das Geld für den Unterhalt, seit 10 Jahren schon." Isabella ist enttäuscht: "Wir wollen ja was lernen, aber man muss uns auch was beibringen. Wir brauchen guten Unterricht, sonst haben wir keine Chance."
Die Zukunft von Rios Jugend, so sollte sie eigentlich nicht aussehen.
Eine Reportage von Ute Brucker (SWR)
Stand: 12.07.2019 10:19 Uhr
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