So., 10.05.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Corona-Hotspot Amazonas
Atemnot und Fieber – doch weil die Krankenhäuser in Manaus überlastet sind, blieb Valdir de Souza daheim. Drei Tage später stirbt er. Die Pandemie trifft in Manaus die Indigenen besonders hart. Das Gesundheitssystem der Amazonas-Hauptstadt ist schon vor Wochen kollabiert. 50 Intensivbetten für 1,7 Millionen Einwohner – alle sind belegt. Täglich werden 120 Menschen beerdigt. Und der Höhepunkt der Pandemie steht Brasilien noch bevor.
Bis zu 120 Beerdigungen am Tag
Das Corona-Abteil des Friedhofs von Manaus. Ununterbrochen treffen Angehörige ein. Die Zeit zum Abschied nehmen – sie ist knapp. Nach wenigen Minuten auf der Bahre: der Transport zur letzten Ruhestätte der Covid-19-Opfer. Fünf Särge auf einmal. Es muss schnell gehen. Jeden Verstorbenen dürfen derzeit nur fünf Angehörige verabschieden. Damit sich nicht zu viele Trauernde versammeln. Ansteckungsgefahr.
Lindi Ramos‘ Schwiegermutter starb mit 71 Jahren an den Folgen von Corona. "Sie ist langsam gestorben. Erst versagten ihre Nieren, dann griff das Virus das Gehirn an – aber nicht die Lunge. Schließlich starb sie. Es war kein Intensivbett mehr für sie frei – deshalb ist sie jetzt tot." Beigesetzt wird sie in einer Art Massengrab. Für eine Zeremonie bleibt keine Zeit. Denn in Manaus werden derzeit mehr als vier Mal so viele Menschen beerdigt wie sonst. Bis zu 120 am Tag. In der Millionenmetropole am Amazonas kollabierte das Gesundheitssystem schon vor Wochen. Es fehlen Intensivbetten und Beatmungsgeräte. Die Toten werden in Kühlcontainern zwischengelagert. In der Krise wirkt Manaus in einigen Teilen wie eine Geisterstadt.
Andernorts herrscht reges Treiben. Von der angeordneten Isolation: Keine Spur. Vor allem die Verkäufer des Fischmarkts wollen nicht zu Hause bleiben. Denn für sie gebe es keine Notfallhilfe vom Staat. "Wir wollen arbeiten. Meine Familie lebt vom Fisch", sagt Fischverkäufer Wellington Hernandez. Andere müssen unfreiwillig Schlange stehen, um die Staatshilfe, eine Einmalzahlung von umgerechnet 300 Euro, abzuholen.
Indigene sind besonders betroffen
Vom Corona-Virus besonders betroffen sind die vielen Indigenen. Laut Experten ist das Immunsystem der Ureinwohner anfälliger für Viruserkrankungen. Bernardino Perreiro vom Stamm der Tikuna verließ vor 22 Jahren den Dschungel, um sich in Manaus niederzulassen. Der westlichen Medizin vertraut er noch immer nicht. Er zeigt uns das wichtigste Medikament seines Stammes – jetzt in der Krise. "Wilden Knoblauch" nennen sie den Strauch, mit dem sie das Virus vertreiben wollen. "Wir mischen die geriebenen Blätter des Wilden Knoblauch in eiskaltes Wasser und gießen es über den Kopf. So gehen die Schmerzen weg."
Vor einer Woche war ein Tikuna, ein Freund von Bernardino, gestorben – vermutlich an den Folgen des Corona-Virus. Viele der anderen hier litten bereits unter Fieberschüben und anderen Virus-Symptomen. "Erst hatte meine Tochter Fieber. Sie blieb zu Hause bis es vorbei war", erzählt Eusileni Perreira. "Dann traf es meine Mutter. Auch sie hat sich erholt – trotz ihrer 75 Jahre." Seit dem Tod seines Freundes lebt Bernadino in Angst. "Keiner weiß, was passieren wird in den kommenden Wochen..."
Am Abend nehmen sie Abschied. Gebete – genau sieben Tage nach dem Tod ihres Freundes. Gemäß der christlichen Tradition, zu der dieser Stamm der Tikuna vor langer Zeit bereits bekehrt wurde. Der Verstorbene war beliebt. Jetzt Abschied zu nehmen, fällt keinem leicht. "Der Tod unseres Stammesmitglieds macht uns traurig" klagt Priester Domingo Ricardos. "Ein großer Schmerz. Wir bleiben hier unten. Er aber ruht dort oben in Frieden – ohne Leid oder Schmerz." Bernardino und die anderen trauern – und beten, dass das Virus den Rest ihres Stammes verschonen möge. Hier in ihrem armen Vorort von Manaus.
Überfordertes Gesundheitssystem
Beim öffentlichen Bestattungsdienst ist die Zahl der Anrufe förmlich explodiert. Sie fahren Sonderschichten. Die Leiterin musste ihr Team innerhalb kürzester Zeit massiv vergrößern, um die Anzahl an kostenlosen Sozialbestattungen stemmen zu können. "Wir waren darauf nicht vorbereitet", berichtet Lenise Trindade vom Sozialamt in Manaus." Als es den ersten Corona-Toten in Manaus gab, hat uns das erschreckt. Wir haben nicht erwartet, dass der Ausbruch bei uns so dramatisch werden könnte."
Während wir drehen, kommt ein Anruf rein. Ein toter 41-Jähriger – auch er vermutlich gestorben wegen des Corona-Virus. Mittlerweile arbeiten sie rund um die Uhr, um den vielen sozial Schwachen eine Bestattung zu ermöglichen. Wegen eines Staus kommen sie verzögert an – in einem Arbeiter-Vorort. Auch hier gab es bereits Corona-Fälle. Die Familie des Toten hatte in Panik angerufen, nachdem sie Valdir da Silva reglos im Badezimmer aufgefunden hatten. Er war Diabetiker. Für seinen Bruder kommt sein Tod plötzlich – nach kurzer, heftiger Krankheit mit mehreren Covid-19-Symptomen. "Sein Zustand verschlechterte sich innerhalb von drei Tagen. Heute Morgen um sieben starb Valdir." "Was war der Grund?" "Er konnte plötzlich nicht mehr atmen."
Für Valdirs Familie steht fest, dass er an "diesem neuen Virus" starb, wie sie Covid-19 nennen. Sie sind wütend, weil sie glauben, dass er eine Überlebenschance gehabt hatte. "Wenn es ein Intensivbett für ihn gegeben hätte, wäre er noch am Leben", meint die Schwester Leini da Silva. "Dann hätten wir ihn ins Krankenhaus gebracht. Aber bevor er dort stirbt, dann doch lieber zu Hause." Viele der Corona-Toten von Manaus könnten vermutlich noch leben. Auch die Oma von Vausa Soares. Doch das Gesundheitssystem war massiv überfordert. "Den Ärzten mache ich keinen Vorwurf. Geschlampt hat vielmehr der Gouverneur. Denn in dem Krankenhaus, in dem meine Oma lag, gab es lediglich ein Beatmungsgerät."
Es sind viele Tragödien, die sich derzeit im Amazonas abspielen. Angehörige, die voller Schmerz und Wut zugleich sind. Während die Corona-Krise in Brasilien den schrecklichen Höhepunkt noch nicht einmal erreicht hat.
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 10.05.2020 21:50 Uhr
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