So., 29.10.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Finanzberatung in der Favela
Nathália Rodrigues nennt sich selbst "Favela-Investorin" – sie ist also Finanzberaterin aus der Favela. Die 28-Jährige lebt im Nordteil von Rio de Janeiro und ist im Netz berühmt geworden durch ihren Blog und hunderte Videos mit Anlagetipps für Brasilianer:innen mit niedrigem Einkommen. Dort zeigt sie Slumbewohner:innen, wie sie von "null auf 100.000 Reais" (ca. 20.000 €) sparen können. Mehr als 500.000 Brasilianer:innen folgen ihr auf Instagram. Eine einfache Sprache und viele bunte Symbole sind in Videos wichtig, damit Nathália die Menschen erreicht, die zuvor selten etwas mit Investments zu tun hatten. Dabei sagt Nathália, dass auch Brasilianer:inne, die weniger als den Mindestlohn verdienen, investieren können – gerade jetzt in der Krise: "Ich möchte die Menschen anstiften, als Unternehmer zu denken."
Erster wichtiger Tipp: Immer die Kontrolle über regelmäßige Ausgaben behalten. Um dann zu schauen, wieviel für Anlagen übrigbleibt. "Viele Ärmere wissen nicht, was sie wann in Raten gekauft haben, wie hoch ihre Schulden und die Zinsen sind. Brasilien ist ein Land, in dem extrem viele arme Menschen verschuldet sind, die aber dennoch oft sogar Kaugummis per Kreditkarte bezahlen. Der Mindestlohn liegt bei etwas mehr als 200 Euro im Monat", erklärt Nathália. Nathalias Tipp für diese Menschen: Investiere an der Börse kleine Beträge und verteile sie auf verschiedene Sektoren. Und: Hab Geduld! Sie selbst hat es genauso gemacht: Seit sie im Netz erfolgreich ist, konnte sie aus der Favela umziehen in ein Mittelklasseviertel. Als Chefin ihres kleinen Teams ist sie mittlerweile Leiterin eines Kleinbetriebs.
Viele verschulden sich durch Kreditkarten
Nach Zahlen des Nationalen Handels- und Dienstleistungsverbandes CNC waren im Januar 2021 zwei von drei Familien verschuldet. Jede vierte Familie war sogar mit ihren Ratenzahlungen im Rückstand. An der Corona-Krise liegt das nur bedingt: Beide Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr um nur einen Prozentpunkt gestiegen. Das Hauptproblem, sagt Influencerin Rodrigues, sei ein anderes: "Sobald man in Brasilien ein Konto eröffnet, geben die Banken einem eine Kreditkarte. Und damit verlieren viele Menschen sehr schnell die Kontrolle über ihre Ausgaben." Die CNC-Zahlen geben ihr Recht: Mehr als 80 Prozent der Rückstände entstehen auf Kreditkarten-Konten.
Seit 2017 sind in Brasilien immer mehr Menschen an der Börse aktiv und investieren – auch dank der Favela-Investoren, die seit einigen Jahren aufgetaucht sind. Eng, stickig und chaotisch – so sehen viele die Favelas in Rio. Aber stört das die, die hier wohnen? Joseanne Santana lebt gerne in ihrer Favela – und mehr noch: Sie will hier als Kleinunternehmerin erfolgreich sein. Mit ihrem Freiluft-Nagelstudio. "Egal, welche Krisen es gibt: Die Schönheit bleibt immer wichtig für Frauen. Man will eben gut aussehen. So wie Fabiana hier. Sie ist eitel – schau! Ihre Nägel, Haare und Augenbrauen", sagt die Nageldesignerin.
Doch viele hier haben ein Problem: Sie sind verschuldet. Auch Joseanne. Große Anschaffungen sind für die Mutter dreier Kinder derzeit nicht drin: "Ich habe mich vor Jahren über meine Kreditkartenausgaben verschuldet. Bislang konnte ich meinen Schuldenberg nicht reduzieren. Denn es waren ja sehr schwierige Jahre seit Beginn der Pandemie." Joseanne sucht Hilfe – bei einer Favela-Finanzberaterin. "Du musst dich gut organisieren und einen Finanzplan erstellen. Klar. nervt das, aber wenn du das tust, ist es soooo viel einfacher, deine Träume zu erfüllen. Denn mit einem Finanzplan weißt du, was du dir leisten kannst. Damit wirst du schuldenfrei und zahlst keine horreeeeenden Strafzinsen mehr", sagt die Nathália.
Know-How, von dem alle profitieren können
Tipps von "Nath Finanças" – "Finanz-Nathalie" wie sich Nathália Rodrigues nennt: 25 Jahre alt, Ex-Favela-Bewohnerin mit BWL-Studium – und mittlerweile ihrem eigenen Finanzberatungs-Start-Up: "Früher bin ich um fünf Uhr morgens aufgestanden und musste drei Busse nehmen, um ins Zentrum von Rio zu gelangen. Dort habe ich erst gearbeitet und danach bis zum Abend BWL studiert. Um 23 Uhr war ich wieder zu Hause und habe in meinem Zimmer meine ersten Finanztipp-Videos aufgenommen." Damals noch ziemlich schlicht. Seitdem hat sie hunderte Clips produziert – und hunderttausende Follower:innen gewonnen. Die meisten leben – so wie sie früher – in der Favela. "Passt mit der Kreditkarte höllisch auf! Du verlierst schnell die Kontrolle. Und gib niemals einem anderen deine Kreditkarte, sonst musst du dessen Schulden zahlen", erklärt die Finanzberaterin. Nath weiß: Zwei Drittel der Brasilianer:innen sind verschuldet. Vor allem Arme: "Mir ging es schon immer auf die Nerven, dass nur Reiche untereinander in der Öffentlichkeit über Investitionen redeten. Was ist mit den Armen aus den Vororten? Wie können die ihr weniges Erspartes vermehren? Oder zumindest nicht in die Schuldenfalle mit Strafzinsen geraten?"
Einer der es dank Nath aus der Schuldenfalle geschafft hat, ist Fabio Gil. Er legt sein Geld jetzt an der Börse an – und auf Festgeldkonten, wo er von den hohen Zinsen in Brasilien profitiert. Auch dadurch finanziert er sein Studium. "Dank Naths Videos habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, als sie mir ganz am Anfang erklärt hat, wie ich gewisse Bankgebühren per einfachem Widerruf nicht mehr zahlen muss. Das war fantastisch. Ich habe auf einen Schlag 15 Euro im Monat gespart. Dank Nath verliere ich jetzt nicht mehr unnötig Geld", erzählt er. Auch Fabio hat gelernt, seine Kreditkartenausgaben in den Griff zu kriegen. Denn statistisch gesehen gehen 80 Prozent der Schulden in Brasilien darauf zurück. "Oft schenken Eltern ihren 18-jährigen Kindern eine Kreditkarte zum Geburtstag. Doch die Karte nutzt dann meist irgendein Verwandter. Der 18-Jährige bleibt dann auf den Schulden sitzen und hat einen negativen Eintrag im Schuldenregister. Wegen eines verschwenderischen Verwandten!", sagt Nathália.
Finanzerziehung – Finanzberatung für Arme – das ist in Brasilien gerade ziemlich angesagt. Die Organisation "Barkus" etwa hilft Kleinstunternehmer:innen, Ein- und Ausgaben im Blick zu behalten – vor der Eröffnung, beispielsweise eines Friseursalons. "Ja, ich gebe mehr aus als ich einnehme. Ich muss meine Ausgaben zügeln, sonst geht die Rechnung nicht auf", sagt Friseurin Fabia Victor. Eine Erkenntnis, die auch dank Nath um sich greift: "Finanzberatung heißt in Rios Favelas vor allem: Verschuldung verhindern. Denn die macht dich ängstlich, weil dich ständig Inkasso-Unternehmen anrufen. Schulden beklemmen Menschen und machen sie traurig – bis hin zu psychischen Problemen."
Schneller Konsum – jahrelang war er ein Mantra für viele Favela-Bewohner. Jetzt sind Menschen wie Joseanne dabei, umzusteuern. Ihre Finanzen nicht mehr dem Zufall zu überlassen. Um sich etwas aufzubauen. "Ich will, dass meine Kinder an einer Privatuni studieren können. Außerdem wäre ein größeres Haus innerhalb meiner Favela ein Traum – auch wenn das teuer und schwierig sein wird", sagt die Nageldesignerin.
Träume, die immer öfter wahr werden. Durch harte Arbeit und die Hilfe von Finanzberatern, die erkannt haben, dass hier – in den Favelas – ein großes Potenzial liegt.
Autor: Matthias Ebert / ARD Rio de Janeiro
Stand: 29.10.2023 19:30 Uhr
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