So., 31.10.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Influencerin kämpft gegen Klimawandel
Sie setzen sich für Brasiliens Regenwald ein: junge Indigene vom Stamm der Pataxô. Auf ihrem Territorium, das umgeben ist von Landwirten, von Agrarflächen und endlosen Rinderweiden.
Nur dort, wo das Gebiet der Indigenen beginnt, steht noch intakter Urwald. "Man sieht hier klar, dass wir Indigene den Urwald besser schützen als andere, damit unser Territorium erhalten bleibt", sagt Alice Pataxó. Sie ist gerade mal 20. Und dennoch eine der wichtigsten indigenen Influencerinnen Brasiliens, die gegen Abholzung kämpft: "Unser Staat denkt nur an wirtschaftliche Ausbeutung – aber nicht an Nachhaltigkeit. An uns Indigene denkt die Bolsonaro-Regierung schon gar nicht. Das muss jetzt beim Klimagipfel unbedingt angesprochen werden. Damit die Welt versteht, wie wichtig unsere Territorien für den Klimaschutz sind."
Indigene sind Opfer von Vertreibung
Die schwierige Lage für Brasiliens Indigene kennt Alice aus eigener Erfahrung. Sie und die anderen Pataxô konnten erst vor fünf Jahren hierher zurückkehren – auf ihr angestammtes Gebiet. Denn es war zuvor jahrzehntlang von Farmern besetzt.
Seit den 50er Jahren, als die Pataxô – teils brutal – von ihrem angestammten Territorium vertrieben wurden, wie Alices Mutter erzählt: "Die Weißen richteten damals viel Übel an. Sie haben uns Pataxô verprügelt, vergewaltigt und auch ermordet. Einer unserer Verwandten, Onkel Julio, wurde wie ein Lastenesel behandelt und schikaniert."
Auch später wurden die Pataxô immer wieder vom Staat vertrieben. Zwischenzeitlich lebten sie am Rande einer Landstraße. Indigene – obdach- und rechtelos auf dem Land, welches sie als Ureinwohner zuvor jahrhundertelang besiedelt hatten. Weil sie vertrieben wurden, konnten Farmer ganze Landstriche abholzen, klagt Alice: "Ich bin es wirklich leid, dass die Umweltverbrechen allen bekannt sind, aber außer warmen Worten nur wenig für uns Indigene getan wird. Wir haben das längst angezeigt: gegenüber der Justiz und im Ausland."
Der Protest gegen einen großen Gegner
Ihren Kampf führt Alice auch 1.000 Kilometer entfernt – in der Hauptstadt Brasilia. Morgens um acht: Für Alice beginnt heute eine wichtige Mission: der Kampf gegen die Bolsonaro-Regierung. "Ich bin hierhergekommen, um gegen Bolsonaros Gesetzesvorhaben zu demonstrieren. Denn dadurch würden indigene Schutzgebiete zur Ausbeutung freigegeben. Das ist ein ernstes Problem", sagt die Aktivistin.
Zum ersten Mal nimmt Alice an einem indigenen Protestcamp teil. Zusammen mit 6.000 Mitstreiter:innen. 170 Ethnien aus ganz Brasilien angereist mit Bussen. Alice filmt die Aufmärsche vorm Versammlungszelt. Es ist der größte indigene Protest in der Geschichte Brasiliens. Ein Aufschrei der Ureinwohner. Sie alle fühlen sich von der Regierung bedroht. "Wir indigene Frauen rufen zusammen: Weg mit Bolsonaro", verkündet die indigene Politikerin, Sônia Guajajara.
Draußen wollen einige Teilnehmer:innen Alice interviewen und Fotos mit ihr. Denn sie ist eine der bekanntesten indigenen Influencerinnen Brasiliens. Per Twitter, Instagram und Youtube erreicht sie Hunderttausende meist junge Anhänger – auch jetzt, vom Protestcamp. "Wir Indigenen müssen uns versammeln und politischen Widerstand leisten", erzählt sie.
Widerstand gegen die Urwald-Zerstörung. Gegen Abholzung und absichtlich gelegte Brände. In den vergangenen 30 Jahren wurde im Amazonas eine Fläche so groß wie Schweden zerstört. Indigene Schutzgebiete sind meist die einzigen grünen Flecken, die übrig bleiben.
Hoffnung und Enttäuschung
In Brasilia setzt Alice ihre Hoffnungen auf das Oberste Gericht: "Heute will das Gericht ein Grundsatzurteil zur Zukunft unserer Kinder fällen. Das ist keine Kleinigkeit, denn es entscheidet darüber, ob die Menschheit den Amazonas retten kann oder nicht."
Heute – so hoffen sie – könnten die obersten Richter Bolsonaro in die Schranken weisen. Mit einem Grundsatzurteil, dass die Rechte Indigener stärkt. Alice überträgt alles live ins Netz. So sind hunderttausende Follower:innen hautnah mit dabei. Vor allem auf Twitter – dem politischen Sprachrohr für Brasiliens junge Indigene. Alice ist das Gesicht dieser neuen Generation, die immer einflussreicher wird: Indigene mit traditionellen Wurzeln – am Puls des Internets.
"Dies hier mache ich als Reporterin aus Leidenschaft. Es ist eine Art Widerstand – und kein normaler Job. Es ist meine Pflicht", erzählt die Aktivistin. Dann – die große Enttäuschung: Das oberste Gericht vertagt das Urteil. Keiner weiß, bis wann. Alice twittert und geht live – mit viel Wut im Bauch: "Leider gibt es heute kein Urteil. Unser Protest aber wird weitergehen. Wir dürfen nicht aufhören und müssen weiterkämpfen."
Immerhin: Alice kann das jetzt auch auf der ganz großen Bühne tun, denn sie ist eingeladen auf dem Weltklimagipfel. Als Sprachrohr einer ganzen Generation in Brasilien.
Autor: Matthias Ebert/ARD Studio Rio
Stand: 31.10.2021 21:03 Uhr
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