Mo., 01.08.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Chile: Bauen für Arme
Diego Rojas führt mich in die Straße, in der er bis 2010 wohnte. Zu den Überresten eines Nachbarhauses. Zerstört von Erdbeben und Tsunami. Die ganze Gegend sah damals so aus erzählt er: "Das Schlimmste war, dass niemand darauf vorbereitet war. Wir schliefen. Plötzlich fing alles an zu wackeln, drei, vier, fünf Minuten lang. Man spürte die Panik, die aufkam."
Ende Februar 2010. Morgens gegen halb vier. Ein Megabeben, 8,8 auf der Richterskala. Es zerstörte Teile der südchilenischen Stadt Constitucion, dann folgte ein Tsunami. Über 500 Menschen starben, Tausende wurden obdachlos.
Hoffnung für die, die alles verloren hatten
Constitucion heute. Vieles wurde neu aufgebaut. Ein Regierungsprogramm: Wohnhäuser für die, die alles verloren hatten. Villa Verde heißt die neue Siedlung, in der auch Diego mit seiner Frau ein neues Zuhause gefunden hat. Und ein neues Lebensgefühl. "Mein ganzes Leben zuvor musste ich immer Miete zahlen. Für Zimmer, Apartment, dann das Haus. Und jetzt sind wir plötzlich Eigentümer. Uns wurde dieses Haus gegeben. Ich bin ewig dankbar dafür", sagt Diego Rojas. Und seine Frau Rosa Faundez ergänzt: "Jawohl, das ist ein wunderbares Geschenk, das wir selbst auch noch zu mehr machen konnten."
"Ein gutes, halbes Haus"
Villa Verde, sozialer Wohnungsbau der besonderen Art. Hunderte Häuser, genauer gesagt, halbe Häuser, die der Architekt da hingestellt hat. In kürzester Zeit so der Auftrag und mit geringsten finanziellen Mitteln. Weniger als 10.000 Dollar pro Grundstück und Neubau. Der Ansatz des Architekten: Es werden nur halbe Häuser vorgefertigt. Die dann der Besitzer je nach finanziellen Möglichkeiten weiter ausbauen und vergrößern kann.
Der Architekt der Armen
Alejandro Aravena baut mit seinem Team keine Luxusimmobilien für Reiche. Er konstruiert günstige, aber hochwertige Sozialwohnungen. In vielen Regionen Chiles. "Hier zum Beispiel sieht man die ursprüngliche Einheit. Später ist das Apartment in alle Richtungen gewachsen. Denn wenn die Bewohner ihre Arbeit nicht verlieren, können sie genug ansparen, um ihre Wohnung in Mittelklasse Standard auszubauen", beschreibt es Alejandro Aravena. "Es ist nicht so, dass wir nur ein halbes Haus bauen, wir stellen ein gutes, halbes Haus hin, mit dem Potential es später aufzuwerten. Das geht dank des Designs und nicht trotz des Designs."
Mit Kreativität und Disziplin gegen die Armut
Probleme lösen. Mutig sein. Der 49-jährige widmet seine Architektur dem Gemeinwohl. Hoch über den Dächern der Hauptstadt Santiagos entwickelt er die Ideen. Er hat das Denken über den sozialen Wohnungsbau revolutioniert und will, keine seelenlosen Bauten hinstellen, die die Armut eher einbetonieren, als sie zu bekämpfen.
Seine Devise: Architektur muss in der Lage sein, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. "Die Leute müssen sich wohl fühlen können. Das hat mit der Ausstrahlung des Gebäudes zu tun, mit Ästhetik, denn sie ist der Klebstoff, der diese Elemente zusammenhält", sagt Alejandro Aravena. "Wir wägen ab, wie wir beim sozialen Wohnungsbau und öffentlichen Projekten mit geringsten Mitteln das meiste rausholen können. Was sehr viel Disziplin benötigt und viel Erfindungsreichtum. Um etwas zu erreichen, muss man kreativ sein."
Unterschiedlichste Bauprojekte
Aravena konstruiert auch andere Projekte. Spektakulär. Und energiebewusst.Hier im Innovation Center der Universität in Santiago, wie auch bei den Siamesischen Türmen braucht es keine Klimaanlagen. Energieeffizienz und Umweltbewusstsein spielen eine große Rolle.
Und andere Projekte für das Gemeinwohl. Wie besonders angelegte Spielplätze. 88 Projekte in 37 Ländern hat Aravena bereits realisiert. "Bei jedem einzelnen Projekt riskieren wir alles, was wir haben. Das ist vor allem unsere Reputation, unser professionelles Image. Aber wir sind bereit das zu riskieren, weil diese Projekte eine Herausforderung sind. Sie machen Sinn." Und sie bringen Menschen ein nie gekanntes Selbstwertgefühl.
In Constitucion präsentiert mir Diegos Frau Rosa stolz, was sie aus ihrem "halben Haus" gemacht haben. Die andere Hälfte haben sie ausgebaut, erklärt sie. Ein Schlafzimmer, ein Bad und die Aussicht dorthin, wo sie früher lebten. 150 Meter vom Ufer entfernt. Da, wo vor sechs Jahren ihr Haus einstürzte und die Wellen des Tsunamis alles überfluteten.
Hochwasserschutz mitgedacht
Auch dieses Problem hat Aravena im Blick, will den Ort vor solchen Naturgewalten schützen. Am Ufer vor der Stadt lässt er seine Visionen umsetzen. Wasserauffangbecken, die die Wellen eines möglichen Tsunamis entschärfen sollen. Später soll hier ein Wald gepflanzt werden. Alejandro Aravena erläutert dazu: "Bei geographischen Bedrohungen, bei Problemen durch die Natur, findet man auch in der Natur eine Lösung."
Umweltschutz und soziales Engagement, das sind die Pfeiler der Architektur von Alejandro Aravena.
Ein Bericht von Michael Stocks (ARD-Studio Rio de Janeiro)
Stand: 12.07.2019 10:19 Uhr
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