So., 21.11.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Chile: Wasser für alle?!
Chile ist eines der wenigen Länder, wo Wasser in Privatbesitz ist – und deshalb vielen Menschen fehlt. Dies ist festgeschrieben in der neoliberalen Verfassung Chiles, die aus der Diktaturzeit stammt. So wuchs Chile wirtschaftlich rasant an, weil das Land ein Export-Wunder erlebt: Avocados, Weintrauben, Blaubeeren und Wein für deutsche Supermärkte zu günstigen Preisen. Doch die Menschen leiden gleichzeitig unter Wassermangel, weil die Wirtschaft die wichtigen Wasserrechte besitzt.
Wasser – jede Menge davon – fließt in Südchile von den Anden hinab ins Tal. Für Harry Jürgensen ist das ein Segen, denn der Landwirt besitzt 900 Milchkühe. Seine Eltern waren nach dem ersten Weltkrieg verarmt aus Flensburg nach Chile ausgewandert. Später hat Harry hier diesen profitträchtigen Agrarbetrieb aufgebaut: "Ich bin ein stolzer Landwirt und besitze hier wichtige Wasserrechte. Ich nutze zwar auch etwas Regenwasser, aber den größten Teil, den wir benötigen, pumpe ich aus zwei Brunnen hoch."
Für das Wasser, das Harry aus 130 Meter Tiefe heraufholt muss er nichts zahlen. Er profitiert davon, dass Wasser in Chile im Privatbesitz ist. So legt es die aktuell gültige Verfassung fest. "Man muss anerkennen, dass unsere aktuelle Verfassung viel Gutes gebracht hat. Mit diesem Regelwerk wurde Chile in den vergangenen 30 Jahren zum wirtschaftlich fortschrittlichsten Land Südamerikas", sagt Harry.
Eine Verfassung, die überarbeitet werden muss
Die Verfassung stammt aus der Feder der Militärs. Verabschiedet wurde sie unter Diktator Augusto Pinochet Anfang der 80er. 2019 jedoch forderten Demonstranten soziale Reformen und eine Änderung der Verfassung. Insgesamt mehr als 1,5 Millionen Menschen. Durch den Druck der Straße wurde eine Verfassungsversammlung einberufen – und Harry Jürgensen hineingewählt. Er arbeitet nun mit anderen Chilenen eine neue Verfassung aus, die Chile gerechter machen soll. Was das Thema Wasser betrifft, will Harry am liebsten, dass sich möglichst wenig ändert: Wasser in Privatbesitz habe sich gelohnt – für ihn persönlich aber auch für Chile als Land: "Um die Ernährungssicherheit zu garantieren, brauchen wir private Wasserrechte. Denn ohne Wasser gibt es keine Landwirtschaft, keine Nahrungsmittelindustrie – ja, überhaupt keine Industrie."
Bei Harry in Südchile ist Wasser im Überfluss vorhanden. Ganz anders: weiter nördlich. In den riesigen Wüstenregionen tragen Flüsse oft kein Wasser mehr. Manche verkommen zu Müllhalden.In der Atacama-Wüste ist die Lage besonders dramatisch. Denn hier befinden sich mehrere Kohlekraftwerke und die größten Kupferminen der Welt. Hier wird der Löwenanteil von Chiles Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet. Auch hier besitzen die Unternehmen weitgehende Wasserrechte – und pumpen das feuchte Element dorthin, wo sie es benötigen. Gleichzeitig sitzen ganze Stadtviertel auf dem Trockenen. Ohne Wasserversorgung. Cristina Dorador will das ändern. So wie Landwirt Harry ist auch sie Mitglied der neuen Verfassungsversammlung. Cristina kämpft für das Recht auf Wasser – für Menschen in Armenvierteln. Sie seien die Opfer der Wasserprivatisierung aus der Zeit der Diktatur: "Den Menschen hier fehlen Wasser und Strom. Sie leben erbärmlich. Manchmal spendet ihnen die Stadtverwaltung Wasser, das mit dem LKW herangekarrt wird."
"Der Wassermangel ist das Schlimmste. Es fehlt uns. Wenn wir mal welches kriegen, ist es meist mit Schwermetallen belastet", sagt Luis Carrizo. Es mache ihre Kinder krank, sagen sie. Nebenan, in der Stadtverwaltung, trifft sich Cristina mit der neu gewählten Bürgermeisterin. Beide kämpfen dafür, dass Chiles zukünftige Verfassung das Thema Wasser völlig neu regelt. "Wir müssen endlich das Recht auf Wasser für alle Chilenen festschreiben. Eine öffentliche Behörde sollte zudem dafür Sorge tragen, dass unser Trinkwasser sauber ist", fordert Cristina Dorador.
Es muss sich etwas ändern
Cristina sucht dafür die Unterstützung der Bevölkerung. Und kämpft in der Verfassungsversammlung dafür, dass Wasser in Zukunft nicht mehr vorrangig in Privatbesitz sein darf: "Bis heute ist es sehr schmerzhaft für mich, zu sehen, wie Chile immer mehr austrocknet – und nichts gegen den Wassermangel der Menschen getan wird. Jetzt aber habe ich endlich die Chance, etwas zu ändern."
Die Wirtschaft dürfe den Menschen nicht mehr das Wasser wegnehmen – für die Produktion von Lithium für den Weltmarkt, für den Export von Avocados, für europäische Supermärkte, oder für die Eukalyptus-Monokulturen, für die Verpackungsindustrie – auch bei uns in Deutschland. Landwirt Harry Jürgensen hat bei der Arbeit an der neuen Verfassung verstanden, dass sich etwas ändern muss. Auf seine Wasserrechte will er nicht verzichten. Aber er weiß auch: Alle Menschen in Chile bräuchten Zugang zu Wasser. "Unsere Wirtschaft hat die Armen jahrzehntelang vergessen. Natürlich ist dieser Zustand beschämend", sagt der Landwirt.
Wasser für alle Bürger – dieses Grundrecht könnte ab kommendem Jahr in Chiles neuer Verfassung stehen. Und das Andenland damit ein Stück weit gerechter machen.
Autor: Matthias Ebert/ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 22.11.2021 18:14 Uhr
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