So., 15.12.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
China – Armut staatlich abgeschafft
Bis 2020, so hat es Staatschef Xi verkündet, soll das Land von aller Armut befreit sein. Von ganz oben gibt es Vorgaben, die bis ins letzte Dorf umgesetzt werden: Zum Beispiel in der Provinz Gansu. Dort werden 15.000 ehemalige Bauern zu Nudelköchen ausgebildet. Unter ihnen der 34-jährige Zhou Yongjie, für den die traditionellen Lanzhou Nudeln – riesenlange Bandnudeln – die Zukunft bedeuten sollen.
Armutsbekämpfung betreibt Peking auch mit Beton: Rund 11 Millionen Menschen lässt die kommunistische Führung landesweit umsiedeln. Danach bekommt jeder eine Urkunde: Offiziell nicht mehr arm, steht da geschrieben.
Mit Nudelsuppe aus der Armut
Fließend Wasser gibt es bei Li Mingxing nicht. Er und seine Familie haben nur das Nötigste zum Leben. Kartoffeln und Mais baut der 23jährige Li auf den kleinen Feldern in den Hügeln an. Die Mingxings im Westen Chinas gehören zu den über 16 Mio. Chinesen in absoluter Armut. Doch Li Mingxing soll es einmal besser gehen als seinen Eltern. Darum macht er nun eine Ausbildung zum Nudelsuppen-Koch. Heute kümmert er sich um die Brühe für die Suppe. Später soll er lernen, die landestypischen Bandnudeln herzustellen. "Der Dorfvorsteher hat mir von dem Ausbildungsprogramm erzählt. Ich wollte mitmachen, weil meine Familie arm ist und ich hier in der Ausbildung was lerne und verdiene. Ich gebe jetzt meinen Eltern etwas Geld."
Das Nudelsuppen-Programm ist Teil eines großen Planes. 15.000 junge Menschen will die Provinz-Regierung allein in diesem Jahr ausgebildet und somit aus der Armut geholt haben. Armutsbekämpfung hat derzeit in China ganz hohe Priorität. Die Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens berichten regelmäßig von Xi Jinpings Überprüfungs-Besuchen. Bis 2020 will der Partei- und Staatsführer alle von der Armut befreit haben. Nicht ganz uneigennützig: Bisher hat stetig wachsender Wohlstand der Bevölkerung der Führung ihre Macht gesichert. Gibt es genügend Essen und Kleidung, fragt er bei jedem dieser Besuche. Ja, antworten die lokalen Beamten. Ihre Bezahlung ist an den Erfolg der Programme geknüpft – so wurde es in der Zentralregierung beschlossen.
775.000 Offizielle wurden demnach zur Armutsbekämpfung in abgelegene Regionen geschickt. Auch zu Li Mingxing, dem angehenden Nudelsuppen-Koch. Wachsen die Kartoffeln bei Ihnen? fragt der Parteisektretär. Li Mingxing tischt die eigene Ernte auf. Nicht nur wenn das deutsche Fernsehen da ist, auch sonst sind Tür-zu-Tür-Besuche Teil des Programms. Niemand soll bei der Armutsbekämpfung übersehen werden.
Millionenfache Umsiedlung
Den Kampf gegen Armut führt die Kommunistische Partei auch mit Beton. Überall im Land lässt sie solche Wohnblöcke bauen. Siedelt rund 11 Millionen Menschen um, aus Dörfern in Städte. Hier in Shi Cheng ist Herr Liu zuständig. Mehr als 600 Familien hat er aus dem Hinterland umgesiedelt. "Unser Ziel ist es sie aus der Armut zu holen", erklärt Liu Bi Ying vom Amt für Armutsbekämpfung. "Es einfacher für sie zu machen zum Arzt zu gehen, zur Arbeit oder zur Schule. Zu verhindern, dass sich Armut von Generation zu Generation vererbt. Und dafür zu sorgen, dass sie Wohlstand erlangen."
Lei Wei Xiu hat daher nun Einbauküche, Zwei-Zimmer und Balkon. Und dank massiver Subventionen von der Zentralregierung in Peking und der Provinz alles für einen Kaufpreis von umgerechnet nur 1.300 Euro. Das Geld haben ihr Verwandte geliehen. "Vorher in den Bergen habe ich Gemüse angebaut und Feuerholz geschlagen, Geld brauchte ich gar nicht. In der Stadt zu leben heißt aber Ausgaben für Gas und anderes. Da steigen die Lebenshaltungskosten." Geld verdient Lei Wei Xiu jetzt in dieser Textilfabrik – von der Partei vermittelt. Wie glücklich sie über die Umsiedlung ist? Offen sprechen kann sie nicht. Interviews gibt es nur unter Aufsicht. "Manchmal vermisse ich die Vergangenheit, ich hänge da noch dran. Aber jetzt ist mein Leben hier besser. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen. Mich umzustellen dauert etwas."
Die Urkunde bezeugt das Ende der Armut
Das Leben in der Siedlung mit angrenzender Schule. Xiong Fu Min holt seine beiden Söhne ab. Auch seine Familie gehört zu den 130.000 Umgesiedelten in der Provinz. Im Wohnzimmer der neuen Wohnung bestätigt eine Urkunde: Offiziell nicht mehr arm, seit März. Zuvor lebte er unter Chinas Armutsgrenze mit weniger als 300 Euro Jahreseinkommen. Sein Vater und er waren Kleinbauern, ein Alltag ohne jeden Komfort. "Die Mücken waren schrecklich", berichtet Xiong Shi Lian "und die Feldarbeit – ständig Dreck am ganzen Körper."
Die alte Heimat. Eine Autostunde und 30 Minuten Fußmarsch – dann erreichen sie, was von ihrem Dorf übrig ist. Sein Großvater hatte das Haus vor 70 Jahren gebaut. Das ganze Leben haben sie hier verbracht. Nach ihrer Umsiedlung ließen die Behörden alles zerstören, offiziell wegen Sicherheitsgefahr. Ihnen bleiben Erinnerungen. "Wenn mein Vater Geburtstag hatte, kamen viele Verwandte und Freunde her um gemeinsam zu feiern", erzählt Xiong Fu Min. "Da war immer was los, sie besuchten uns hier und übernachteten dann bei uns." Doch das ist Vergangenheit. Statt Altes zu bewahren verlangt Peking Fortschritt – um jeden Preis. Denn die Umsiedlungen in ganz China haben höchste Priorität für die Führung im fernen Peking.
Zurück bei der Nudelsuppen-Ausbildung im Westen Chinas. Die Kunst der Lanzhou-Bandnudeln ist nur schwer zu erlernen. Auch der 34jährige Zhou Yongjie kämpft noch etwas. Die Pläne der Lehrlinge sind klar: Die Zukunft soll reicher sein. "Erstmal will ich einen Job finden, bei dem ich weiter üben kann. Wenn ich dann auch noch genügend Geld habe, würde ich gerne meinen eigenen Laden aufmachen." Bislang hat Zhou vom Bohnenanbau gelebt – ganz am unteren Ende der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich. Für ihn ist das Armutsbekämpfungsprogramm eine Verbesserung seines Einkommens. Für die kommunistische Partei vielleicht sogar eine Frage des Überlebens.
Tamara Anthony und Daniel Satra, ARD-Studio Peking
Stand: 15.12.2019 21:47 Uhr
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