So., 23.10.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
China: Kein Job für junge Leute
Freitagabend in Peking. Tengteng ist in seinem Element. Das selbstgebraute Bier ist das Markenzeichen seiner Bar. Wer hierher kommt, will eine Auszeit vom Hamsterrad des Konkurrenzkampfs. "Wir wollen einen Ort schaffen, der wie das Wohnzimmer in unserem Haus ist. Ein Ort, an dem wir Freunde willkommen heißen", sagt der Barbesitzer.
Zusammenhalt in schwierigen Zeiten ist das Motto seiner Bar. Jobs für junge Leute sind derzeit rar. Nach vier Jahrzehnten des rasanten Aufschwungs stockt die Wirtschaft in fast allen Branchen. Die Arbeitslosenquote für die bis 24-Jährigen ist mit offiziell etwa 19 Prozent auf einem Höchststand.
Viele sind überqualifiziert
So sah Tengtengs Bar oft im Sommer aus. Nur Personal, keine Kunden in der neu gegründeten Bar. Sein Bier durfte der ausgebildete Jurist nur außer Haus verkaufen: "Alle unsere Vollzeitmitarbeiter haben einen hohen Bildungsabschluss. Zum Beispiel einen Abschluss in Politikwissenschaft oder Recht der Universität für Internationale Studien in Peking."
Eine Arbeit, weit unter der eigentlichen Qualifikation. So ist es auch bei Liu Ziheng. Er hat Tourismus studiert. Ein halbes Jahr hat er vergeblich nach Arbeit gesucht. Jetzt jobbt er in einem Laden, in dem sich junge Leute für Fantasy Brettspiele treffen. Viel Geld verdient er allerdings nicht. "Wegen Corona und vor allem wegen den Corona-Maßnahmen bringt der Job eigentlich wirklich nur das Allernötigste ein", sagt Liu Ziheng.
Liu Ziheng wohnt in der Wohnung seiner Oma, daher kommt er auch mit wenig Geld über die Runden. Seine Hoffnung ist, mit einem weiteren Studienabschluss seine Chancen zu verbessern: "Ich sehe ja, wie in allen Bereichen die Zahl der ausgeschriebenen Jobs gefallen ist. Viele von uns wollen eigentlich nach dem Bachelor arbeiten gehen, aber weil es keine Arbeit gibt, studieren wir jetzt weiter."
Im gesellschaftlichen Bewusstsein ist verankert: nur wer viel lernt, findet einen Job. Die Zahl derer, die nach der Schule weiter studieren, ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Waren es 2010 noch nur 24 Prozent eines Jahrgangs, sind es derzeit 58 Prozent.
Ein ewiges Hamsterrad
Doch in China gibt es nun zu viele gut Ausgebildete für zu wenig gut angesehene Karrieren. Prof. Xiang Biao forscht am Max Planck Institut in Halle über Chinas junge Erwachsene. Sie leben in einem Teufelskreis des Konkurrenzkampfes. In China gibt es dafür neuerdings ein eigenes Wort: radikaler Ausbeutungswettbewerb. "Es bedeutet im Grunde, dass man sich endlos anstrengt. Das ist ein sehr ermüdender Prozess, aber ohne wirklichen Sinn. Man wird gezwungen, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Ein unaufhörlicher Wettbewerb", erklärt der Professor.
Wegen schlechter Arbeitschancen, ein weiteres Studium – auch wenn es zu Überqualifizierung führt. Aus diesem Lerneifer der jungen Erwachsenen hat sich ein Geschäftsmodell entwickelt. Ähnlich wie Co-Working Büros, gibt es nun auch stundenweise buchbare Schreibtische zum Lernen.
Yu Zhenming brütet hier 20 Stunden die Woche über seinen Büchern. Er hat schon einen Masterabschluss in Zivilrecht, aber weil sein Job auf der Kippe steht, will er seine Chancen verbessern – mit einem weiteren Abschluss: "Prüfungssysteme sind eines der wenigen Systeme, die fair sind. Solange man genug Arbeit in das Lernen gesteckt hat, wird man auch entsprechend mit guten Noten belohnt. Das ist direkter, einfacher und fairer als die meisten Dinge in unserem Leben, zum Beispiel die Arbeit.“
Angst ist das dominierende Gefühl dieser Generation, so sagen Studien. Seit einem Jahr macht das Wort tang ping "flach liegen" in China die Runde. Nicht eine Gegenbewegung, eher ein frommer Wunsch von Jugendlichen, die das ständige Wetteifern satt haben. "Sie kritisieren die derzeitige Situation, aber sie haben noch keine Alternative gefunden. Sie wissen noch nicht, was ein konstruktiver Weg sein kann, um eine andere Lebensweise zu führen", erzählt Prof. Xiang Biao.
Zwischen Arbeitslosigkeit, Überqualifizierung und Konkurrenzkampf. Chinas Jugend sucht nach einem Sinn. Soziales und politisches Engagement ist nur begrenzt möglich. TengTeng und seine Kolleg:innen gibt die Gemeinschaft bei der Arbeit Halt. "Ich denke, das Gefühl, verloren zu sein, ist definitiv bei vielen vorhanden. Aber es hängt davon ab, wie man damit umgeht", sagt Tengteng.
Jahrzehntelang gab das stetige Wachstum allen das Gefühl von Chance und Perspektive. Die derzeit düsteren Wirtschaftszahlen treffen die Jüngeren nun mit voller Wucht.
Autorin: Tamara Antony/ARD Studio Peking
Stand: 23.10.2022 20:50 Uhr
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