So., 19.04.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
China: Nach der Quarantäne
76 Tage stand Wuhan still – Massen-Quarantäne. 11 Millionen Einwohner in Isolation. Nun kommt, ganz langsam, das Leben zurück. Doch was macht es mit den Menschen, mit einer Gesellschaft, wenn sie so lange eingesperrt sind? Professor Peng Kaiping vergleicht die Zeit mit der eines Krieges – viele kehren mit tiefen Narben zurück. Der Dekan der renommierten Tsinghua Universität befürchtet Langzeitfolgen: "Allein durch die Quarantäne werden viele mit posttraumatischer Belastungsstörung kämpfen müssen".
Während der Krise entstanden über 600 Telefonhotlines. Eine davon hat die Psychotherapeutin Du Mingjun gegründet. Inzwischen hat sie ein Netzwerk von über 250 Kollegen aufgebaut, die Tag und Nacht den Sorgen der Menschen zuhören. Du Mingjun hat viele Menschen über eine lange Zeit betreut. Sie sieht auch Positives: "Die Menschen setzen jetzt andere Prioritäten. Das direkte Umfeld bekommt eine neue Bedeutung, Nachbarn sind plötzlich wichtig. So etwas wird bleiben."
Noch sind die Freiheiten begrenzt
Auf den Straßen von Wuhan: wieder Menschen. Leben kehrt zurück in die 11 Millionen-Stadt – nach 76 Tagen Lockdown. "Kommt für einen Spaziergang hier an den Yangze-Fluss. Aber nimm deine liebste Person mit!" Zhizhu hat als Videoblogger die schlimmste Zeit der Stadt festgehalten: damals filmte er geisterhaft leere Straßen, traf Menschen in Not, half als Medikamenten-Kurier aus.
Doch auch nach der Öffnung der Stadt: die Freiheiten in Wuhan sind begrenzt. Zhizhu filmt für seinen nächsten Video-Blog. Aber in manche Straßen dürfen nur Anwohner rein. An allen Geschäften muss er Tracking Apps benutzen, die unter anderem seinen Gesundheitsstatus anzeigen. Nach welchen Kriterien sie dann den Zutritt erlauben oder verweigern ist nicht bekannt. Auch die Stadt besuchen und verlassen darf nicht jeder. Wir sprechen daher mit Zhizhu nur über Video. "In der Vergangenheit war die typische Beschreibung von Menschen aus Wuhan, dass sie laut und ungeduldig sind", so der Video-Blogger Zhizhu. "Die Krise hat uns gezeigt, dass wir auch sehr freundliche und liebenswürdige Menschen sind."
Die langfristigen Folgen von Corona
Januar 2020: Bilder aus den ersten Tagen nach der Abriegelung. Die Krankenhäuser: hoffnungslos überfüllt. Viele Menschen sind verzweifelt. Alles war damals neu. Die Tragweite komplett offen. Der Dekan der renommierten Tsinghua Universität rechnet mit verbreiteten Post-Traumatischen Belastungsstörungen. "Das wird nicht nur Leute betreffen, die selbst in so einer Situation waren", erklärt Peng Kaiping von der Tsinghua Universität. "Durch Empathie leiden wir mit. Und auch dann treten Post-Traumatische Symptome auf."
Obwohl Therapie und Seelsorge in China nicht verbreitet sind, innerhalb weniger Tage – noch im Januar – boten etwa 500 Hotlines psychologische Beratung an. Professor Peng entwickelte zudem einen Online-Kurs für freiwillige Helfer. Nach 20 Lehrstunden schlossen sie mit einem Zertifikat ab. "Dieses Zertifikat bedeutete sehr viel, es befreit aus der Ohnmacht. Die meisten kamen aus Wuhan. Sie hatten selbst Bedarf und wollten helfen. Aber es half auch ihnen selbst."
Und das medizinische Personal? Videos von Zusammenbrüchen zirkulierten online. Vor allem aber wurden Ärzte und Krankenpfleger als Helden gefeiert. "Soldaten in Weiß" wurden sie genannt. Vorbereitet auf ihren Einsatz, als würden sie in den Krieg ziehen. Die Psychologin Du Mingjun hat in Wuhan eine Telefonseelsorge aufgebaut. Inzwischen betreuen mehr als 250 Kollegen die Anrufer rund um die Uhr. "Die Mediziner haben im Einsatz meist einen guten Selbstschutz. Aber wenn alles vorbei ist, wenn unsere Soldaten vom Schlachtfeld zurückkommen, wird ihr Trauma ausbrechen."
Chinas gesunder Überlebensmodus
Die psychologischen Folgen – auch ein Ausdruck der Kultur. In Li Mings Familie waren alle Erwachsenen mit dem Virus infiziert. Er selbst durfte in den vergangenen drei Monaten deswegen nur ein einziges Mal seine Wohnung verlassen. Er hatte sich bereits gefreut, wieder raus zu dürfen. Doch vor drei Tagen tauchten neue Corona Fälle in seiner Wohnanlage auf – jetzt darf sie niemand mehr verlassen. Trotzdem Li beklagt sich nicht. Was er gedacht hat, als er im Krankenhaus war, fragen wir? "Was ich gedacht habe? Gebe ich meiner Frau den Pin-Code meiner Kreditkarte oder meinen Eltern. Nur daran habe ich gedacht. Man muss realistisch denken!"
Ein gesunder Überlebensmodus – vielen hat er geholfen. Gefördert wird er durch die soziale Ordnung in China. "Wenn sie einem Chinesen sagen, dass es gut ist für seine Familie, seine Gemeinschaft oder sein Land, dann werden die meisten es gerne unterstützen", meint Peng Kaiping. "Westliche Gesellschaften dagegen heben den Individualismus hervor. Das Land ist für dich da."
Zurück zum Videoblogger Zhizhu, zum neuen Normal nach der Krise. Was bleiben wird, meint er, dass Menschen auch die kleinen schönen Dinge im Leben schätzen werden.
Autorin: Tamara Anthony, ARD-Studio Peking
Stand: 09.06.2020 17:23 Uhr
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